Dies ist der vierte und letzte Teil einer Serie von Beiträgen über Skills. Falls Sie es noch nicht getan haben, empfehlen wir Ihnen, zuerst die anderen Beiträge zu lesen: Lassen wir mal den Bullshit weg und Sorry Leute, aber «Microsoft Office» ist KEINE Kompetenz sowie Der vergiftete Apfel der «einfachen» Skills-Daten – sind Sie bereit, auf diesen süssen Geschmack zu verzichten?

Im dritten Beitrag dieser Serie haben wir die Herausforderungen und Chancen von Daten aus Online-Stellenanzeigen (OJA) diskutiert. Angenommen, wir haben die perfekte Definition eines Skills und haben alle relevanten Informationen wie Beruf, erforderliche Erfahrung und Ausbildung, explizite und implizite Skills usw. aus sauberen, duplikatfreien OJA-Daten extrahiert. Was nun?

Dies ist der Punkt in vielen verwandten Projekten, an dem die Daten beispielsweise in Form einer interaktiven Website für interessierte Benutzer zugänglich gemacht werden. Manchmal gibt es einen Hinweis darauf, dass die Daten nicht repräsentativ sind oder sie in irgendeiner Weise verzerrt sind. Die Idee dieser Websites ist es, Informationen für politische Entscheidungstragende, Arbeitgebende, Bildungsanbietende, Berufseinsteigende usw. bereitzustellen, damit diese fundierte Entscheidungen treffen können. Das ist sicherlich eine noble Idee. Aber ein Hinweis ändert nichts an der Tatsache, dass diesen Nutzer*innen dennoch ein verzerrtes Bild vermittelt wird. Sie werden dazu verleitet, faktengetriebene Entscheidungen zu treffen – ohne alle Fakten zu kennen. Wie sollen Schüler*innen eine informierte Berufswahl treffen, z. B. Handwerk oder akademischer Beruf, wenn es nur Informationen für den akademischen Weg gibt? Wie sollen politische Entscheidungstragende entscheiden, für welche Ausbildungsprojekte sie Mittel bereitstellen, wenn die Daten auf bestimmte Branchen oder Berufe hin verzerrt sind? Wie sollen Bildungsanbietende die Lehrpläne an der Marktnachfrage ausrichten, wenn es keine Informationen darüber gibt, wie wichtig ein bestimmter Skill für einen Stelle ist?

Werfen wir einen Blick auf einige der Herausforderungen bei der Analyse dieser Daten.

Eine erhöhte Anzahl von Anzeigen ist nicht gleichbedeutend mit einer tatsächlichen Ausweitung der Nachfrage. Die OJA-Daten können lediglich die Bruttoveränderungen der Nachfrage approximieren, da die Daten sowohl neue Stellen umfassen, die aus Wachstum resultieren, als auch bestehende Stellen, die aufgrund von Personalfluktuation freigeworden sind. Das bedeutet, dass die Zukunft eines bestimmten Berufs nicht allein auf der Grundlage des Wachstums der Zahl der OJA für diesen Job vorhergesagt werden kann. Das Gleiche gilt für Skills.

Häufig genannte Anforderungen sind nicht unbedingt entscheidende Anforderungen. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass wir alle impliziten Skills extrahieren konnten (z. B. nicht ausdrücklich benannte berufliche Skills, von denen Personalverantwortliche annehmen, dass sie für potenzielle Bewerber*innen implizit klar sind, oder Skills, die vermutlich in der Ausbildung erworben wurden), gibt es hier noch Herausforderungen: Erstens kann es eine Tendenz geben, für leicht zu besetzende Stellen mehr als nötig zu verlangen und für schwer zu besetzende Stellen weniger als nötig. Ausserdem neigen Personalverantwortliche bei bestimmten Stellen dazu, eine Ausbildung zu verlangen, die an sich nicht notwendig ist. Ein Beispiel hierfür ist ein MINT-Abschluss für quantitative Berufe. In der Beratung wird selten das Fachwissen eines Physik- oder Biologieabsolventen benötigt, aber MINT-Studenten erwerben typischerweise auch Skills wie kritisches Denken, komplexes Problemlösen, quantitatives Denken, Kommunikations- und Präsentationsfähigkeiten, etc. Es sind diese übertragbaren Skills, an denen solche Arbeitgeber interessiert sind. Die blosse Zählung erwähnter Skills gibt also nicht Aufschluss über die gefragtesten Skills, die für Arbeitgeber wirklich relevant sind.

Die Extraktion impliziter Skills bringt ihre eigenen Herausforderungen mit sich. Profile für Berufe und Ausbildungen variieren auf verschiedenen Ebenen stark. Es gibt weder ein Standard-Skillprofil für einen bestimmten Beruf, noch gibt es ein solches für eine bestimmte Ausbildung.[1] Zum Beispiel hängen die Skills, die in einer Berufsausbildung zum Schreiner erworben werden, von der Dauer der Ausbildung (z. B. 1,5 Jahre in Nicaragua vs. vier Jahre in der Schweiz) oder der Wahl des Schwerpunkts und vielen weiteren Faktoren ab. Einige der Skills, die eine Pflegekraft in einer städtischen Privatklinik benötigt, werden sich von denen unterscheiden, die eine Pflegekraft in einem staatlichen Krankenhaus auf dem Land benötigt, selbst wenn sie im gleichen Fachgebiet tätig sind. Daher kann der Bedarf an Skills auch nicht direkt aus dem Bedarf an Stellen/Ausbildung extrapoliert werden.

Das Ignorieren dieser und anderer Herausforderungen führt genau zu den häufigen Fehlinterpretationen, die wir in dieser Serie besprochen haben. Man könnte dies auch als Unaufmerksamkeitsblindheit bezeichnen, ein Phänomen, das mit dem «Gorilla-Experiment» berühmt wurde. In dem Experiment wurden die Studienteilnehmer aufgefordert, sich auf ein bestimmtes Detail in einem Video zu konzentrieren, in dem zwei Mannschaften bei einem Ballspiel zu sehen waren. In der Hälfte des Videos läuft ein Gorilla durch das Spiel, stellt sich in die Mitte, klopft sich auf die Brust und verlässt den Raum. Mehr als die Hälfte der Probanden verpasste den Gorilla komplett – und war sich zugleich sicher, dass sie ihn nicht hätten übersehen können. In ähnlicher Weise laufen wir durch Fokussierung auf «einfache Daten» und auf die aktuellen Publikationen mit ihren schnellen und unsauberen Interpretationen Gefahr, den Blick für das zu verlieren, was direkt vor uns liegt. Wir denken, dass wir in bestimmten Bereichen einen Mangel an Skills haben und übersehen das völlig Offensichtliche. Um dies zu veranschaulichen, werfen wir einen genaueren Blick auf den laut CEDEFOP-Daten am meisten gefragte Skill des Jahres 2020: sich an Veränderungen anpassen. Dies ist nebenbei auch einer der aktuellen globalen Buzz-Skills.

Hinweis: Wir werden im Laufe dieses Beitrags mehrere Beispiele aus dem OJA-Online-Datentool Skills-OVATE von CEDEFOP verwenden. Das bedeutet nicht, dass diese Daten in irgendeiner Weise schlechter sind als die von anderen OJA-Datenanbietern, wir sind nicht hier, um jemanden zu verspotten. Wir wollen einfach im Sinne einer faktenbasierten Diskussion echte Fakten aus echten Daten bereitstellen, und wir haben uns entschieden, uns aus Gründen der Konsistenz auf eine Quelle zu konzentrieren.

Zu den Top 10 Berufen, die den Skill sich an Veränderungen anpassen erfordern, gehören Athleten und Berufssportler, Flugmotorenmechaniker und -schlosser sowie Berufsfeuerwehrleute. Hier sind alle Skills, die in den CEDEFOP-Daten für diese Berufe aufgeführt sind, nach Anzahl Nennungen geordnet:

Diese Listen liegen genau in der Komfortzone und enthalten viele der aktuellen Skills, die in aller Munde sind. Aber was ist mit den entscheidenden Skills und Kenntnissen[2], die Arbeitnehmende in diesen Berufen tatsächlich brauchen? Sollten Flugmotorenmechaniker nicht Kenntnisse über Flugmotoren haben? Oder Feuerwehrleute Stress aushalten können? Und der Umgang mit Bürosystemen kann unmöglich eine Schlüsselkompetenz für Sportler sein.

Was nun?

Zunächst einmal sollten wir von verallgemeinernden Listen und vereinfachten Aussagen abrücken. Wie wir in dieser Beitragsserie gesehen haben, sind das eindeutig keine Schlussfolgerungen, die wir sinnvollerweise aus den verfügbaren Daten ziehen können. Stattdessen sollten wir zu einer differenzierteren Interpretation und Kommunikation übergehen – auch wenn das weniger sexy ist. Ausserdem sollten wir bei der Kommunikation der Ergebnisse davon absehen, Skills zu normalisieren und in generische Gruppen zusammenzufassen. Pauschale Begriffe wie Sales & Marketing, Computerkenntnisse oder Teamfähigkeit mögen für Statistiken nützlich sein, aber in anderen Zusammenhängen vermitteln sie schlicht keine brauchbaren Informationen. Sales Skills unterscheiden sich dramatisch, je nachdem, ob sie für eine Stelle im Einzelhandel, den Verkauf von Anzeigen für Zeitschriften, Maschinen oder ein ganzes Kraftwerk gesucht werden. In ihrem Kontext betrachtet, gibt es Millionen von Skills, und diese können nicht sinnvoll in beispielsweise die etwas mehr als 13’000 ESCO-Skills gequetscht werden, ohne dass kritische Informationen verloren gehen – selbst wenn die Mehrheit richtig geparst und extrahiert worden wäre, was im Allgemeinen eindeutig nicht der Fall ist.

Wir müssen Wege finden, um die entscheidenden Skills zu bestimmen und sie von den Buzz-Skills zu unterscheiden. Expertenwissen, wie es zur Erstellung von berufsspezifischen Skill-Profilen in Taxonomien wie O*NET und ESCO verwendet wird, ist aufgrund der grossen Vielfalt an Skill-Profilen für einen bestimmten Beruf tendenziell ungenau oder zu verallgemeinert. Daher wird die Bestimmung der entscheidenden Skills vermutlich eine grosse Herausforderung bleiben, bis Personalverantwortliche damit beginnen, in Stellenanzeigen konsequent hervorzuheben, welche Skills wirklich notwendig sind und welche nicht. In der Zwischenzeit sollten Skills zumindest so analysiert werden, wie sie im Kontext eines Berufs vorkommen, abhängig von Regionen, Branchen usw. Dabei sollten Must-Have-Skills, falls verfügbar, in OJA-Daten erfasst werden und diese mit Umfragedaten sowohl von Arbeitgebenden als auch von Arbeitnehmenden ergänzt werden.

Wenn das Ziel darin besteht, die Daten Nutzern wie Studenten oder politischen Entscheidungsträgern zur Verfügung zu stellen, sollten wir dort, wo die OJA-Daten unzureichend sind, zusätzliche Informationen sammeln und bereitstellen und erklären, wie die Daten zu betrachten sind, anstatt (im besten Fall) eine vereinfachende Disclaimer-Floskel hinzuzufügen. Die Informationen müssen ergänzt werden, um ein ausgewogenes Bild der nachgefragten Berufe und Skills zu vermitteln. Wenn wir uns ausschliesslich auf OJA-Daten verlassen, lenken wir aktiv noch mehr junge Menschen von Berufen und Branchen weg, die dringend neue Talente benötigen: Handwerks- und Bauberufe, Pflegekräfte und mehr – von denen viele noch eindeutig «zukunftssicher» sind. Und wir fördern eine anhaltende potenzielle Fehlallokation von Milliarden an Fördergeldern für Up- und Reskilling in den falschen Bereichen. Andererseits ist es vielleicht günstiger als die Erhebung zusätzlicher Daten durch zeitaufwändige Umfragen und andere kostspielige Mittel und die Finanzierung einer umfangreichen beruflichen, technischen oder höheren (Um-)Bildungsmassnahme… Und natürlich stellt sich auch noch die Herausforderung, das Skill-Angebot zu messen, ein weiterer Schlüsselaspekt für eine fundierte Politikgestaltung für den Arbeitsmarkt. Das geht jedoch weit über den Rahmen dieses Beitrags hinaus.

Ach ja, und wir sollten auch simple Sanity Checks durchführen.

Laut CEDEFOP-Daten aus dem Jahr 2020 erfordern 2% der ausgeschriebenen Barkeeper-Jobs in der EU Skills in der Durchführung von Landvermessungen, dem Sammeln wetterbezogener Daten oder der Analyse von Strassenverkehrsmustern.

Analyzing skills data. Can you see the gorilla?

Wussten Sie, dass 1 von 25 Musiker*innen, Sänger*innen und Komponist*innen Java beherrschen muss?

Analyzing skills data. Can you see the gorilla?

Verlangt irgendjemand tatsächlich von Frachtarbeiter*innen, dass sie Yoga oder Bihari können? Oder sollte vielleicht jemand noch einmal die Prozesse der Datenerfassung überprüfen?

Analyzing skills data. Can you see the gorilla?

Leider ist es sehr einfach, solche Beispiele zu finden. Sie können viele weitere in den Daten von jedem Ihrer Lieblingsanbieter von OJA-Daten finden. (Nochmals, wir verwenden Beispiele von CEDEFOP nur aus Gründen der Konsistenz, nicht weil deren Daten schlechter sind als die von anderen Quellen). Die einzige Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen können, ist, dass diese Dashboards und Statistiken schlicht nicht geprüft werden. Ansonsten könnte dies unmöglich unbemerkt bleiben. Es wirft jedoch auch etwas Licht auf das, was die Autoren des (im vorigen Beitrag erwähnten) ESSnet Big-Data-Berichts meinten, als sie sagten: «Die Qualitätsprobleme sind derart, dass es nicht klar ist, ob diese Daten in einer Weise integriert werden können, dass sie den von der amtlichen Statistik erwarteten Standards entsprechen

Und weil immer mehr Institutionen und Organisationen mit denselben wenigen Datenanbietern arbeiten – nach dem Motto «wenn alle mit ihnen arbeiten, können ihre Daten nicht so schlecht sein.» – werden die gleichen Fehler immer wieder gemacht und multiplizieren sich immer schneller. Zitiert, gepostet und überall geteilt von immer mehr Leuten. Nur: Wenn man sie oft genug wiederholt, werden diese Fehler nicht besser oder wahrer. Und jetzt, seit dem 20. Januar 2021, ist es an der Zeit, alternative Fakten hinter sich zu lassen. Beginnen wir also, nach faktenbasierten Alternativen zu suchen.

 

[1] Mehr zu diesem Thema finden Sie in dieser Studie oder in unseren Whitepapers zu Standard-Kompetenzprofilen und Ausbildungszonen.
[2] Die CEDEFOP Daten basieren auf der ESCO Taxonomie, die in ihrer Definition von Skills auch Kenntnisse miteinschliesst.