Von Standard-Kompetenzprofilen und anderen Märchen
Viele Arbeitgebende tun sich schwer, die Fähigkeiten, die sie für eine bestimmte Arbeitsstelle am meisten schätzen, zu artikulieren und zu vermitteln, und dies führt zu einer Unzahl von Variationen im Vokabular, das für Stellenausschreibungen verwendet wird. Angesichts der Möglichkeiten, die sich durch die KI-Automatisierung von Rekrutierungsprozessen eröffnen, sind heute viele global aufgestellte Rekrutierungsagenturen oder Personalabteilungen versucht zu fragen, ob KI eine schnelle Lösung für diese Schwierigkeiten bieten könnte, z. B. durch die Erstellung eines einheitlichen Kompetenzprofils für einen gegebenen Beruf. Das Fehlen eines gemeinsamen Vokabulars unter den Akteuren des Arbeitsmarktes stellt natürlich ein Hindernis dar: Viele Jobportale basieren auf Keyword Matching, was aufgrund des unterschiedlichen Vokabulars zu verpassten Chancen sowohl für Stellensuchende als auch für Recruiter führt; und talentorientierte Formulierungen von Stellenanzeigen stellen KI-basierte Automatisierungen vor grossen Herausforderungen. Diese Problematik kann in der Tat durch den Einsatz semantischer Technologien angegangen werden, die in gewisser Weise die vielen sprachlichen Variationen in ein gemeinsames Vokabular übersetzen und so das Matching zwischen Arbeitssuchenden und Arbeitgebenden erheblich verbessern. Doch obwohl eine solche Technologie ein standardisiertes Vokabular generieren kann, bedeutet dies nicht, dass sie ein standardisiertes Kompetenzprofil für Stellenausschreibungen erstellen kann. Die relevante Frage ist, ob ein solches globales Kompetenzprofil überhaupt existiert. Gibt es bei Stellenausschreibungen für einen gegebenen Beruf genügend Gemeinsamkeiten rund um den Globus, um ein Standard-Kompetenzprofil zu definieren? Oder wenigstens in einzelnen Ländern?
JANZZ hat im Laufe der Jahre Millionen von Stellenangeboten analysiert, um diesen Fragen nachzugehen. Um unsere Ergebnisse zu veranschaulichen, wollen wir Kompetenzprofile für zwei klassische Berufe untersuchen, nämlich Schreiner*in und Krankenpfleger*in. Wir wählten für diese Berufe nach dem Zufallsprinzip je etwa 250 Stellenausschreibungen aus fünf Ländern in zwei Sprachregionen aus: Vereinigte Staaten, Grossbritannien, Schweiz, Deutschland und Österreich. Unsere Auswertung zeigt, dass es selbst in stark reglementierten Berufen wie der Krankenpflege grosse Unterschiede in den für die einzelnen Stellen erforderlichen Kompetenzen gibt.
Kompetenzen können Stellen definieren. Aber wer definiert die Kompetenzen? Ein Unternehmen in einem Land sucht möglicherweise nicht die gleiche Person wie ein vergleichbares Unternehmen in einem anderen Land, weil die Fähigkeiten nicht nur von den spezifischen Aufgaben abhängen, sondern auch von kulturellen oder regulatorischen Faktoren, dem Bildungssystem und vielen anderen Aspekten. In der Tat können in einem Land mehrere Personen mit unterschiedlichen Kompetenzen erforderlich sein, um eine Arbeit zu verrichten, für die in einem anderen Land möglicherweise bereits eine einzige Person qualifiziert ist. Starke Unterschiede in den Kompetenzprofilen sind sogar innerhalb derselben Region zu beobachten, weil sich verschiedene Unternehmen unterschiedlich auf dem Markt positionieren. Dies zeigt sich nicht nur in der vielfältigen Nachfrage nach fachlichen Kompetenzen, sondern auch in den erforderlichen Soft Skills, welche die Unternehmensphilosophie, die Teamdynamik oder die Kundenerwartungen widerspiegeln können.
Die Rolle von Bildung und Berufserfahrung
Werfen wir einen genaueren Blick auf das Schreinerhandwerk. Deutschland, Österreich und die Schweiz (DACH-Länder) haben ein duales Ausbildungssystem, in dem Auszubildende in bestimmten Berufen, darunter auch im Schreinerhandwerk, eine Lehre absolvieren können. Die genauen (fachlichen) Fertigkeiten und die Theorie, die vermittelt werden, sind streng reglementiert und durch nationale Standards definiert, einschliesslich derer für verschiedene Fachrichtungen, die nach der Grundausbildung gewählt werden können. Wer eine Ausbildung im Schreinerhandwerk anstrebt, hat in diesen Ländern kaum eine andere Wahl, als diesen Weg einzuschlagen. Auch Grossbritannien hat vor kurzem eine vollständig überarbeitete Lehrlingsausbildungsstruktur eingeführt, mit nationalen Standards für eine wachsende Zahl von Berufen, und entwickelt Anreize für Arbeitgebende, Lehrlinge einzustellen. Doch auch wenn Lehrstellen für bestimmte Berufe existieren, gibt es für jeden dieser Berufe einen alternativen Weg über die College-Ausbildung, der ebenso (wenn nicht mindestens so) allgemein akzeptiert ist. Da diese Strukturen zudem noch sehr neu sind, hat die Mehrheit der Beschäftigten in diesen Berufen keine Lehre abgeschlossen.
Ring innen: Anteil der Stellenausschreibungen, die mindestens ein Kriterium in Bezug auf Erfahrung bzw. Ausbildung auflisten.
Mitte: Die Zahl in der Mitte des Diagramms ist das Verhältnis von erforderlicher Erfahrung zur erforderlichen Ausbildung. Eine Zahl grösser als eins deutet somit auf einen stärkeren Bedarf an Erfahrung als an Ausbildung hin, und umgekehrt bei einer Zahl kleiner als eins.
Um das Offensichtliche auszusprechen: Wer eine Lehre abgeschlossen hat, verfügt auch über Berufserfahrung. Und wenn nur sehr wenige Arbeitnehmende eine Lehre absolviert haben, dann werden Arbeitgebende stattdessen Arbeitserfahrung verlangen. Dies wird auch durch unsere Daten für Krankenpflegekräfte bestätigt. Dieser Beruf ist in allen fünf Ländern stark reglementiert und erfordert eine (praktische und theoretische) Ausbildung nach vordefinierten nationalen Standards und mit spezifischen optionalen Spezialisierungen. Entsprechend ist in allen fünf Ländern die Nachfrage nach Berufserfahrung im Vergleich zur Ausbildung deutlich geringer (siehe Abbildung unten). Wir sehen auch, dass in den USA bei Stellenausschreibungen für Schreiner*innen Erfahrung mit Werkzeugen viel häufiger explizit erwähnt wird. Dies kann auch eine Folge fehlender standardisierter Ausbildung sein, wo Erfahrung mit Werkzeugen selbstverständlich ist.
Ring innen: Anteil der Stellenausschreibungen, die mindestens ein Kriterium in Bezug auf Erfahrung bzw. Ausbildung auflisten.
Mitte: Die Zahl in der Mitte des Diagramms ist das Verhältnis von erforderlicher Erfahrung zur erforderlichen Ausbildung. Eine Zahl grösser als eins deutet somit auf einen stärkeren Bedarf an Erfahrung als an Ausbildung hin, und umgekehrt bei einer Zahl kleiner als eins.
In Bezug auf die handwerklichen Fertigkeiten von Schreiner*innen stellen wir in allen Kategorien deutliche Unterschiede fest. In Grossbritannien und den USA sind die geforderten Kompetenzen über alle Bereiche des Schreinerhandwerks verstreut, von allgemeinen Fertigkeiten über Kenntnisse im Bauwesen und Innenausbau bis hin zu zusätzlichen Fähigkeiten aus anderen Berufen, während in den DACH-Ländern der Schwerpunkt eindeutig auf allgemeinen Aspekten des Schreinerhandwerks liegt und spezifische Fertigkeiten kaum erwähnt werden. Voll ausgebildete Schreiner*innen sind in der Regel vielseitiger ausgebildet als angelernte und damit für eine grössere Vielfalt von Arbeitsaufgaben einsetzbar, die in Stellenausschreibungen nicht explizit erwähnt werden müssen. Im Gegensatz dazu sind Stellen für Schreiner*innen in Ländern mit weniger standardisierter Ausbildung oft auf weniger, spezifische Aufgaben begrenzt. Auffällig ist, dass in unseren Daten, abgesehen vom Laminieren, weder in den USA noch in Grossbritannien eine Nachfrage nach Fertigungskenntnissen besteht. Solche Fachkenntnisse gelernter Schreiner*innen werden bei jeder fünften DACH-Ausschreibung vorausgesetzt. Andererseits sehen wir in den USA und Grossbritannien eine gewisse Nachfrage nach Fertigkeiten aus anderen Berufen, die in den DACH-Ländern (fast) nicht vorhanden ist. Dies ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass gelernte Schreiner*innen mit geringer Wahrscheinlichkeit Fachkenntnisse aus anderen Handwerksberufen erlernt haben, während Angelernte eine beliebige Anzahl anderer solcher Fähigkeiten erworben haben könnten.
Ein ähnlicher Effekt ist bei Krankenpflegekräften zu beobachten: In allen fünf Ländern werden fachliche Kompetenzen im Allgemeinen kaum erwähnt, und besonders wenige Angebote enthalten detaillierte Angaben zu spezifischen Fähigkeiten – nur zwischen 4 und 10 Prozent der Stellenausschreibungen pro Land. Der Schwerpunkt in dieser Kompetenzkategorie liegt vor allem auf Spezialgebieten und zusätzlichen Aufgaben, die nicht Teil der Standardausbildung und/oder -erfahrung sind.
Regionale Unterschiede
Es gibt auch andere Faktoren, die das Kompetenzprofil beeinflussen. In Grossbritannien beispielsweise scheinen Soft Skills im Schreinerhandwerk von geringer Bedeutung zu sein: Weniger als die Hälfte der Stellenausschreibungen in Grossbritannien verlangen überhaupt Soft Skills, verglichen mit 76 % in den USA und rund 90 % in den DACH-Ländern. In den USA sind die Top 3 der geforderten Soft Skills körperliche Belastbarkeit, Flexibilität und Überstunden sowie Teamfähigkeit (in dieser Reihenfolge). Im Gegensatz dazu sind die Top 3 in den DACH-Ländern Teamfähigkeit, selbständiges Arbeiten und Zuverlässigkeit. Dies zeigt, dass Arbeitgeber in den USA in der Regel ganz andere Arbeitnehmer suchen als in den DACH-Ländern.
Interessanterweise gibt es auch bei den Soft Skills für Krankenpflegekräfte signifikante Unterschiede: In den DACH-Ländern wird in jeder einzelnen Stellenausschreibung mindestens ein Soft Skill verlangt, mit einem Median von fünf, während in den USA und Grossbritannien nur 70 bzw. 80 Prozent der Stellenausschreibungen Soft Skills verlangen, mit einem Median von eins (USA) bzw. drei (Grossbritannien). Die Top-3-Fähigkeiten in der Schweiz sind Teamfähigkeit (48 %), Verantwortungsbewusstsein (46 %) und selbständiges Arbeiten (44 %). In Grossbritannien sind die Top 3 kommunikative Kompetenz, Fürsorglichkeit und Motivation – allerdings mit deutlich geringerer Nachfrage (40 %, 26 % bzw. 26 %). Auch hier sehen wir in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedliche Kriterien.
Ein weiterer zu berücksichtigender Aspekt sind Regulierungsfragen und Sicherheitsstandards. In den USA und Grossbritannien verlangen Arbeitgebende ausdrücklich Kenntnisse über Sicherheitspraktiken (OHSA und HSE/CSCS-Karte), und ein erheblicher Anteil erwartet, dass Arbeitnehmende über eigene Werkzeuge verfügen. Dies wird in den DACH-Ländern überhaupt nicht beobachtet und lässt sich auf Unterschiede in der Ausbildung und bei den Vorschriften zurückführen. In ähnlicher Weise verlangen drei von vier US-Stellenausschreibungen für Krankenpflegekräfte ausdrücklich BLS- oder ähnliche Zertifizierungen, die in den anderen vier Ländern Teil der Standardausbildung sind und daher nicht erwähnt werden.
Unternehmens-/branchenspezifische Unterschiede
Angenommen, wir wollen immer noch ein Standard-Kompetenzprofil erstellen. Die einfachste Strategie wäre, alle Kriterien einzuschliessen, die in mindestens einer Stellenausschreibung vorkommen. Basierend auf unseren Daten für Schreiner*innen ergäbe dies eine Liste mit 103 Anforderungen, von denen die meisten für eine individuelle Stellenausschreibung völlig irrelevant wären: Im Durchschnitt sind pro Stellenausschreibung sieben Kompetenzen aufgelistet, wobei die einzelnen Zahlen von 2 bis 21 reichen. Bei Krankenpflegekräften hätten wir 94 Anforderungen mit durchschnittlich acht Kompetenzen pro Stelle und einer Spanne von 1 bis 16.
Eine andere Strategie, die man in Betracht ziehen kann, ist die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, z. B. alle Kompetenzen, die für mindestens 25 % der Stellenausschreibungen in jedem Land erforderlich sind. Betrachtet man die obigen Daten noch einmal, so bleiben nur noch zwei Kriterien für Schreiner*innen übrig: Berufserfahrung (von unbestimmter Dauer) und ein Führerausweis. Für die meisten Recruiter wäre dies inakzeptabel. In der Schweiz ist eine abgeschlossene Berufslehre bei der überwiegenden Mehrheit der Stellenausschreibungen ein Muss, während in Deutschland ein Führerausweis in den meisten Fällen nicht erforderlich ist. Ein solches Profil würde also in einem Land viele ungeeignete Bewerbende hervorbringen und in einem anderen Land zu wenige Bewerbende und viele verpasste Chancen.
Für Krankenpflegekräfte ergibt diese Strategie wiederum nur zwei Kriterien: Krankenpflegeausbildung und Berufserfahrung (in einem beliebigen Fachgebiet). Kein einziger Soft Skill ist aufgeführt, obwohl diese Kategorie stark gewichtet wird – mindestens 70 % der Stellenausschreibungen verlangen solche Kompetenzen. Darüber hinaus wird bei drei von vier Stellenausschreibungen in Deutschland keine Berufserfahrung verlangt. Auch hier wäre das Resultat eine erhebliche Diskrepanz zwischen Bewerbenden und Stellenangeboten.
Verfolgen wir die 25 %-Strategie für ein einzelnes Land, beispielsweise die Schweiz, so lautet unser Standard-Kompetenzprofil für Krankenpflegekräfte wie folgt:
- Krankenpflegeausbildung
- Berufserfahrung
- Pflege und Betreuung
- Computerkenntnisse
- Verantwortungsbewusstsein
- Belastbarkeit
- Kommunikative Kompetenz
- Empathie
- Soziale Kompetenz
- Teamfähigkeit
- Fachliche Kompetenz
- Flexibilität und Überstunden
- Selbständiges Arbeiten
Auf den ersten Blick erscheint dies akzeptabel. Allerdings verlangen fast 70 % der Stellenausschreibungen in der Schweiz andere fachliche Kompetenzen als die generische Pflege und Betreuung. Mehr als die Hälfte der Stellenausschreibungen verlangen spezialisierte Fachkenntnisse, die nicht in der Krankenpflege-Grundausbildung erworben werden. Entsprechend muss nun jede einzelne Ausschreibung gemäss der spezifischen Stelle feinabgestimmt werden.
Auch bei Schreiner*innen in den USA stossen wir auf solche Probleme. Unsere Strategie erzeugt das folgende Kompetenzprofil:
- Berufserfahrung
- Erfahrung mit Werkzeugen
- Möbelbau
- Fenster und Türen
- Teamfähigkeit
- Flexibilität und Überstunden
- Körperliche Belastbarkeit
- Pläne lesen
- Mathematische Fähigkeiten
- Kenntnisse über Sicherheitspraktiken
- Führerausweis
Wie zuvor wirkt dies zunächst adäquat. Bei genauerer Betrachtung der handwerklichen Fertigkeiten fällt jedoch auf, dass Schreiner*innen, die sich auf Möbelbau oder Fenster und Türen spezialisiert haben, möglicherweise keine Erfahrung mit Trockenbau, Dachbau oder anderen Baustrukturen haben, da dies andere Fähigkeiten voraussetzt. Ausserdem erfordern volle 80 % der Stellenausschreibungen handwerkliche Fähigkeiten, die nicht in unserem Kompetenzprofil aufgeführt sind, und 60 % der Stellenausschreibungen verlangen andere Soft Skills.
In ähnlicher Weise wären Montage und Einbau die einzigen handwerklichen Kenntnisse, die in einem entsprechend standardisierten Kompetenzprofil für Österreich aufgeführt sind. Viele Stellen im Schreinerhandwerk beinhalten jedoch keine Montage- und Einbauarbeiten, wie etwa sieben von zehn der Stellenausschreibungen in Österreich, die Fertigungskenntnisse erfordern. In diesem Land werden Fertigungstechniken in einer anderen Fachrichtung der Schreinerlehre erlernt, so dass durchschnittliche Monteur*innen nicht über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen.
Zurück auf Start
Dies sind wohl einfache Strategien, und eine ausgefeilte KI-basierte Methode könnte vielleicht etwas bessere Ergebnisse liefern. Dennoch bleibt die zentrale, in unserer Analyse identifizierte Problematik ungelöst: Es gibt eine immense Variation, die nicht nur auf nationale und regionale Unterschiede zurückzuführen ist, sondern auch aus unterschiedlichen Stellenanforderungen in verschiedenen Branchen und sogar innerhalb einzelner Unternehmen entsteht. Unsere Daten zeigen, dass jedes global definierte Kernprofil daher an das Land angepasst werden muss (z. B. um Bildungs-, regulatorische und kulturelle Faktoren zu berücksichtigen), dann an die Branche (Baugewerbe, Fertigung usw.), an das individuelle Unternehmen (z. B. Unternehmenskultur) und schliesslich an die individuelle Stelle. Womit wir wieder bei den einzelnen Stellenausschreibungen wären. Ein einheitliches Kompetenzprofil existiert also schlicht nicht.
1) Eigene Berechnungen basierend auf Zahlen der OECD und nationaler Statistikämter