Lassen wir mal den Bullshit weg
Anpassungsfähigkeit und Flexibilität, digitale Kompetenzen, Kreativität und Innovation, emotionale Intelligenz… Seit die Pandemie weltweit um sich gegriffen hat, spricht jeder über die Top-Skills, die Mitarbeitende nach COVID benötigen werden. Wenn man die zahlreichen Beiträge von Forbes über Randstad bis hin zu EURES durchgeht, scheint der wichtigste gemeinsame Punkt zu sein, dass sie intransparent, wenn nicht sogar völlig unbegründet sind. Trotz des ganzen Lärms, den sie erzeugen, gibt keiner dieser Posts einen Einblick, auf welchen Daten ihre Behauptungen beruhen – oder ob sie überhaupt Daten haben. Hier bei JANZZ haben wir für ein Projekt in Australien und Neuseeland über 500.000 Stellenausschreibungen der letzten Monate analysiert. In diesen Daten, ebenso wie in unseren anderen Daten aus ähnlichen Projekten in ganz anderen Märkten und Regionen der Welt, gibt es keinen Hinweis auf eine erhöhte Nachfrage nach Kreativität und Innovation oder nach digitalen Kompetenzen – zu denen übrigens die Fähigkeit an einem Video-Call teilzunehmen nicht zählen sollte, genauso wie die Nutzung von Excel den Ökonomen nicht zu einem MINT-Beruf macht. Die am meisten gefragten Skills über alle Berufe hinweg, vom Kellner bis zum leitenden Politiker, waren vielmehr Ehrgeiz, Eigenmotivation und die Fähigkeit, selbstständig zu arbeiten.
Aber es geht nicht nur um die Analyse von Fähigkeiten. Wenn es um… nun, alles geht, was mit Jobs und Fähigkeiten zu tun hat, gibt es eine unglaubliche Menge an Bullshit da draussen. Hier nur ein paar Beispiele.
Zukünftige Jobs. Laut der WEF-Studie «Future of Jobs Survey 2020» wird bei den Top 20 Berufen mit steigender und sinkender Nachfrage über alle Branchen für Mechaniker und Maschinenreparateure sowohl steigende (Platz 18) als auch sinkende Nachfrage (Platz 9) festgestellt. Das Gleiche gilt für Manager in Unternehmensdienstleistungen und Verwaltung (steigend Platz 12, fallend Platz 6). Dieser scheinbare Widerspruch wird einfach ohne weitere Erklärung stehengelassen. Dennoch wird diese Information in zahlreichen Blogs und Beiträgen einfach blind wiedergegeben. [1]
LinkedIn Skills-Berichte. Dasselbe gilt für den ganzen Rummel, den die LinkedIn-Berichte über gefragte Skills erzeugen. Unzählige Artikel und Beiträge reproduzieren diese Listen, und ignorieren dabei komplett die Tatsache, dass sie auf den Daten von LinkedIn-Profilen beruhen [2], die einen starken Bias aufweisen. So sind zum Beispiel Arbeiterberufe und -branchen stark unterrepräsentiert. Doch laut den ManpowerGroup «Talent Shortage» Erhebungen sind seit sieben Jahren in Folge Handwerksstellen am schwierigsten zu besetzen, weltweit und national in fast allen Ländern; auf der diesjährigen Liste zusammen mit Fahrern (insbesondere LKW-/Schwerlast-, Liefer-/Kurier- und Baufahrern), Produktions- und Maschinenbedienern, Bauarbeitern und Fachkräften im Gesundheitswesen. Sollten da nicht die in diesen Berufen notwendigen Fähigkeiten stärker gefragt sein als Blockchain oder Cloud Computing?
Skills-Bedarf. Ein kanadisches Institut hat einen Bericht verfasst, der auf Daten und Skills-Taxonomien eines grossen Anbieters von Arbeitsmarktanalysen beruht. Der Bericht wird mit der folgenden Aussage eingeleitet: «Es reicht nicht, den Kanadiern zu sagen, dass sie digitale Kompetenzen brauchen; wir müssen konkret sein.» Dann werden die Top 10 der digitalen Kompetenzen nach Anzahl Stellenausschreibungen identifiziert. Mit dabei sind Microsoft Excel and Spreadsheets. Es gibt nichts Spezifisches an diesen „Skills“. Zunächst einmal sagt der Begriff «Microsoft Excel» absolut nichts über die tatsächlich benötigten Fähigkeiten aus. Wird von Kandidaten erwartet, dass sie die Anwendung einfach öffnen und Daten eingeben können? Oder sollten sie in der Lage sein, Formeln zu erstellen? Wie komplex sollen die Formeln denn sein? Was ist mit Diagrammen? Ausserdem: Was ist genau der Unterschied zwischen den beiden Kompetenzen Microsoft Excel and Spreadsheets?
Upskilling. Innerhalb eines Unternehmens kann Upskilling sehr nützlich sein. Ein einzelnes Unternehmen ist in seiner Ausrichtung einigermassen festgelegt und sollte eine klare Strategie haben, die auch den Skills-Bedarf des Unternehmens und damit die Weiterbildungsstrategien weitgehend bestimmen wird. Die Entwicklung nachhaltiger Upskilling-Strategien als Teil einer aktiven Arbeitsmarktpolitik ist jedoch eine ganz andere Herausforderung. Entgegen dem, was viele Online-Beiträge und Technologieanbieter behaupten, wird das blosse Upskilling aller Stellensuchenden die Arbeitslosenzahlen nicht nachhaltig senken und entspricht auch nicht unbedingt den Anforderungen des Arbeitsmarkts. In einem Land, in dem viele geringqualifizierte Arbeiten angeboten werden, nützt es zum Beispiel nichts, einen bereits überqualifizierten Stellensuchenden weiterzubilden. Oder wenn die Weiterbildungsangebote von schlechter Qualität oder nicht auf die Marktbedürfnisse abgestimmt sind. In vielen Ländern ist dies die Realität.
Job-Matching. Ein niederländischer Tech-Anbieter für Arbeitsverwaltungen behauptet, dass seine Softwarelösungen den öffentlichen Arbeitsverwaltungen helfen können, «die Arbeitslosenzahlen zu senken». Als ob das allein durch den Einsatz des richtigen Job-Matching-Tools möglich wäre. Dieser Artikel (auf Italienisch) in der renommierten italienischen Zeitung Corriere della Sera veranschaulicht einige der Probleme, die vor oder zumindest während der Implementierung einer Softwarelösung für die Arbeitsverwaltung gelöst werden müssen: Es gibt derzeit 730’000 offene Stellen in Italien, denen 2,5 Mio. aktiv Arbeitssuchende plus 13,5 Mio. inaktive und entmutigte Arbeitslose gegenüberstehen. Die Kompetenzen der Stellensuchenden in Italien sind nicht mit der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt abgestimmt. Aus- und Weiterbildung, insbesondere für Arbeitslose, sind mehrheitlich unzureichend, von schlechter Qualität und nicht auf die Bedürfnisse des Markts abgestimmt. Die Arbeitsämter haben ungenügend und nicht angemessen ausgebildetes Personal. Italien investiert äusserst wenig in aktive Arbeitsmarktpolitik. Sie haben zwar Pläne gemacht, dieses Budget zu erhöhen, aber keine Strategie, wie sie die zusätzlichen Mittel ausgeben wollen. Zudem würde ein Richtungswechsel eine Vision erfordern, die nicht nach den nächsten Wahlen verpufft, was angesichts der politischen Landschaft und Geschichte Italiens eine extrem hohe Anforderung darstellt. Und dennoch argumentiert der niederländische Tech-Anbieter, dass seine Jobportal-Lösungen den entscheidenden Unterschied machen werden.
Das meiste, was es da draussen gibt, ist im Grunde Bauchgefühl und kreatives Marketing. Wie wäre es also, den ganzen Bullshit einfach mal wegzulassen und zurück zu einer ehrlichen, faktenbasierten Diskussion zu finden? Nun, um das zu tun, müssen wir herausfinden, was die Fakten denn sind. Und dafür müssen wir uns zunächst auf die Grundlagen einigen (z. B. definieren, was einen Skill überhaupt ausmacht), und dann ausgehend von diesen Definitionen zuverlässige Daten erzeugen. Mehr dazu in unserem nächsten Beitrag…
[1] Wenn Sie mehr über die Herausforderungen im Zusammenhang mit prognostischen Analysen auf der Grundlage von Berufsdaten (z.B. Skills-Antizipation) erfahren möchten, lesen Sie den Vortrag unseres CEOs, der in einem aktuellen ILO-Bericht wiedergegeben wurde.
[2] Gemäss LinkedIn: Die am stärksten nachgefragten Skills wurden anhand von Fähigkeiten ermittelt, die im Verhältnis zu ihrem Angebot sehr gefragt sind. Die Nachfrage wird gemessen, indem die Fähigkeiten ermittelt werden, die in den LinkedIn-Profilen der Personen aufgeführt sind, die am häufigsten eingestellt werden. Quelle: https://business.linkedin.com/talent-solutions/blog/trends-and-research/2020/most-in-demand-hard-and-soft-skills