Können/werden Recruiting-Technologien die Arbeitsmärkte direkt und aktiv beeinflussen? Können sie die Märkte z.B. für 50+, Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund fairer machen? Teil 9/10
Die Frage hier ist vor allem zwischen können und werden. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass anonyme Bewerbungsverfahren Chancengleichheit im Bewerbungsprozess fördern. Genau das könnten Ontologie basiertes Matching, Parsing und Co. Das heisst, sie könnten Bewerber und Stellen automatisch zusammenführen, ohne dass die Entscheidung über den Bewerber im ersten Schritt durch die zwar erfahrene aber eben auch oft durch Erfahrung gefärbte Sicht eines Menschen getroffen wird. Vor allem für ältere Bewerber, Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund kann das ein grosser Vorteil sein. Denn sie haben oft schlechte Karten bei der Bewerbung. Aber wie gesagt, die Frage ist nicht wirklich, ob Technologien, wie ich sie in meiner Reihe vorgestellt habe, den Arbeitsmarkt direkt und aktiv beeinflussen können, sondern vielmehr ob sie es auch werden. Denn das Potenzial für Veränderung ist gross, ebenso aber der Widerstand gegen jegliche Abweichung vom Status Quo im Arbeitsmarkt.
Zudem zeigt sich so etwas wie ein abnehmender Grenznutzen der digitalen Revolution. Während Computer in den 90er und Nuller Jahren zu einer enormen Produktivitätssteigerung beigetragen haben, führen heutige digitale Innovationen nur noch zu einem kleinen Produktivitätszuwachs. Robert Gordon, führender Kritiker der Technologie-Optimisten, erklärt in einem Interview, dass „die wichtigsten Veränderungen durch die Einführung von Computern schon vor langer Zeit stattgefunden haben.“ Er begründet weiter, dass der Einfluss von neuen Technologien auf das Produktivitätswachstum vorbei sei. Wenn es also um die Einführung von Technologien geht, die den Arbeitsmarkt aktiv beeinflussen könnten, wird deren Nutzen immer strikt gegen die Kosten abgewogen. Im Kontext von immer geringeren Nutzen solcher Innovationen steht die Disruption des Arbeitsmarktes durch neue Technologien auf wackeligen Beinen.
(Bild: istock) Die zentrale Frage: Werden wir wirklich den nächsten Schritt wagen und innovative Technologien den Arbeitsmarkt aktiv beeinflussen lassen? Oder ist der Widerstand zu gross und der zusätzliche Nutzen zu klein?
Anonyme Bewerbung für mehr Fairness
Anonyme und automatisierte Bewerbungsverfahren sind ein wichtiger Teil eines faireren Arbeitsmarktes. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Deutschland hat dazu bereits 2010 ein Pilotprojekt lanciert: Unternehmen wie die Deutsche Post, die Deutsche Telekom, L’Oréal, Procter & Gamble und das Bundesfamilienministerium testeten ein anonymisiertes Bewerbungsverfahren. Der Studie zufolge sah die Mehrheit der Personalchefs kein Problem darin, dass diese persönlichen Angaben fehlten. Einige gaben sogar zu, dass sie von Bewerbern im Vorstellungsgespräch überzeugt wurden, die sie ohne das anonymisierte Verfahren gar nicht erst eingeladen hätten. Nach dem Ende des Projektes wollten vier Unternehmen auch künftig Ihre Bewerber ohne Foto und Namen zum Bewerbungsgespräch einladen. Die grossen Unternehmen wie die Deutsche Post, L’Oréal oder die Telekom waren aber nicht dabei: „Unsere Personalstrategie richtet sich eher nach dem persönlichen Eindruck, den wir von einer Person im Vorstellungsgespräch gewinnen. Darauf legen wir mehr Wert als auf einen glatten Lebenslauf oder gute Zeugnisse“, sagt Husam Azrak von der Telekom. „Eine anonyme Bewerbung ist da eher hinderlich.“ Im Sinne dieser Aussage waren anonyme Bewerbungen lange kein Thema mehr – in der Schweiz sind sie es immer noch nicht – bis die Forderung nach faireren Bewerbungsverfahren in Grossbritannien Ende 2015 wieder aufkam.
Die Empfindung von Herr Azrak steht dabei für das heutige Paradigma im Recruiting: Es „menschelt“ eben trotz vieler guter Technologien und innovativer Ansätze immer noch sehr. Die Idee, den Menschen nicht auf ein paar Stichworte in seinem CV reduzieren zu wollen, ist ja auch lobenswert, und Maschinen sind sicher nicht in der Lage, alle Facetten einer Bewerbung zu erkennen. Doch ebenso sollten die Vorteile von automatisierten Verfahren im Arbeitsmarkt nicht aufgrund dieser Ansicht voreilig abgeschrieben werden. Carole Egger von der Hay Group erklärt in einem Interview die Ablehnung gegenüber Recruiting-Technologien zum Beispiel so: „Es fehlt das Know-how zu automatisierten Verfahren. Daraus resultiert oftmals eine skeptische Grundhaltung gegenüber innovativen Recruiting-Technologien.“ Zudem sind die Einstellungsprozesse oft nicht genügend standardisiert, um gewisse Arbeitsschritte zu automatisieren. Insofern hatten Projekte wie das Pilotprojekt in Deutschland bisher einen schweren Stand und konnten kein Umdenken im Arbeitsmarkt herbeiführen.
Chancengleichheit – ein vielschichtiges Problem
Eine offene Einstellung gegenüber solchen Technologien und innovativen Verfahren wäre aber umso wichtiger, wenn man den Einfluss von Chancengleichheit bei der Stellenbesetzung auf den Erfolg eines Unternehmens betrachtet. Klaus F. Zimmermann ist Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit und glaubt, dass Unternehmen sogar aus ökonomischer Sicht von anonymisierten Bewerbungsverfahren profitieren: „Firmen, in denen Junge und Alte in Teams zusammenarbeiten, in denen die interkulturelle Kompetenz von Einwanderern klug genutzt wird und junge Mütter mehr Förderung und Unterstützung erfahren, sind insgesamt produktiver als andere. Diese Organisationen stehen somit im Ergebnis besser da.“ Eine Studie von EY zeigte zudem auch, dass Unternehmen mit mehr als 30 Prozent Frauen in der Geschäftsleitung einen um bis zu 6 Prozent höheren Reingewinn erzielen können. Mehr Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen sollte also ganz oben auf der Liste stehen und dennoch läuft der Stellenmarkt wie gewohnt weiter, von Disruption kaum etwas zu spüren.
Das mag auch daran liegen, dass es schwierig ist zu sagen, wie man denn Chancengleichheit schafft: Anonyme Bewerbungsverfahren sind nur eine Möglichkeit und werden an sich schon sehr unterschiedlich interpretiert. Eine anonyme Bewerbung meint oft einfach nur eine Bewerbung ohne Foto und Namen. Doch um wirklich ohne Vorurteile die besten Bewerber herauspicken zu können, müssten alle Informationen der offenen Stelle und der Lebensläufe miteinander abgeglichen werden. Das kann nur ein ontologiebasiertes Matching. Denn nur ein solches Vorgehen beseitigt auch tiefergreifende (unbewusste) Vorurteile. Professor Tsay vom University College London zeigt zum Beispiel, dass wir ein „Naturalness Bias“ haben, ein unbewusstes Vorurteil zugunsten von Naturtalenten und gegen Menschen, die sich Ihre Fähigkeiten durch Fleiss erarbeitet haben. Zudem gibt es auch Lösungen, die ganz woanders ansetzen. Zum Beispiel das Unternehmen Unitive von Laura Mather, das sich für bessere Stellenanzeigen einsetzt. So haben Studien gezeigt, dass die Sprache, die in Inseraten verwendet wird, oft nur ein Geschlecht anspricht. Ihre Software bietet eine automatische Kontrolle von Stellenanzeigen, um diese ausgewogen zu formulieren und so eine möglichst diverse BewerberInnen-Gruppe anzusprechen. Unitive bietet zudem auch ein Tool, das „Unconscious Bias“ (auf Deutsch „unbewusste Vorurteile“) bei der Auswertung des Bewerbungsgespräches vermindern soll. Zum Beispiel soll verhindert werden, dass Ivy League Universitätsabschlüsse begünstigt werden. Die Ansätze, die darauf zielen, mehr Chancengleichheit zu schaffen, reichen also vom Schreiben eines Stelleninserates über eine erste Bewerberauswahl bis hin zum Bewerbungsgespräch.
Um wirkliche Chancengleichheit zu schaffen, müsste sich der Mensch eigentlich komplett aus dem Einstellungsprozess herausnehmen. Der Computer, der ohne Vorurteile bewertet, müsste den ganzen Prozess, vom Schalten der Stellenanzeige bis zur Einstellung, umspannen. Doch das soll und wird nie passieren. Über die in einer Anzeige beschriebenen Parameter hinaus macht ja auch das zwischenmenschliche Gespür und die Einschätzung eines Kandidaten, die Qualifikationen des HR aus. Der Computer könnte aber in jedem Fall eine Art „Check and Balance“ bieten, also eine Kontrolle und ein Gegengewicht gegenüber der oft unbewusst getrübten Sicht des Menschen. Wie beschrieben, sind es aber vor allem die Willigkeit des HR, solche Technologien zu nutzen und deren Grenznutzen, die darüber entscheiden, ob solche Technologien den Arbeitsmarkt auch wirklich beeinflussen werden.