KI, Automatisierung und die Zukunft der Arbeit – jenseits der üblichen Bubbles

In den letzten Jahren sind zahlreiche Artikel und Berichte erschienen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie KI und Automatisierung die Zukunft der Arbeit gestalten werden. Je nach Perspektive oder Absicht des Autors oder der Autorin weisen diese Beiträge in eine von zwei Richtungen: Entweder wird die neue Technologie Arbeitsplätze vernichten und verheerende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben, oder sie wird eine strahlende Zukunft für alle schaffen, indem sie nur die langweiligen Jobs vernichtet und bessere, interessantere hervorbringt. ChatGPT zum Beispiel hat einen Hype sondergleichen entfacht, bei dem das Publikum wie ein Pendel zwischen zwei Extrempositionen hin und her zu schwingen scheint. Auf der einen Seite gibt es die geradezu euphorischen Reaktionen. In diesem Lager wird darüber fabuliert, wie wir diese vermeintlich superintelligente Technologie nutzen können, um unsere Arbeit zu bereichern – vom Journalismus über Programmieren und Datenanalyse bis hin zu Projektmanagement oder Schulaufgaben. Auf der anderen Seite zeigen sich viele besorgt über den möglichen Missbrauch. So könnte ChatGPT genutzt werden, um Malware oder Phishing-E-Mails zu schreiben, Fehlinformationen zu verbreiten, private Daten weiterzugeben oder Arbeitskräfte zu ersetzen. In diesem Beitrag wollen wir eine differenziertere Sichtweise einnehmen, indem wir die gängigsten Argumente und Behauptungen diskutieren und mit den Fakten vergleichen. Bevor wir dies tun, sollten wir jedoch klären, was KI-getriebene digitale Transformation ist. Kurz gesagt: Es geht um Automatisierung, um den Einsatz von KI-Technologien für Aufgaben, die wir nicht (mehr) dem Menschen überlassen wollen oder die der Mensch nicht bewältigen kann – genau wie in der ersten, zweiten und dritten industriellen Revolution.

Vom Strumpfwebstuhl zur KI-Kunst

Jede dieser Revolutionen ging mit der Befürchtung einher, dass die menschliche Arbeitskraft überflüssig werden könnte. Warum also automatisieren? Auch wenn es in manchen Fällen den Erfinder*innen rein um die erfinderische Leistung an sich geht, so sind es doch meist wirtschaftliche Interessen, die eine Erfindung oder Entwicklung vorantreiben. Das Gleiche gilt für deren breite Anwendung: Ohne wirtschaftliche Vorteile setzen sich Innovationen kaum durch. Und unabhängig von der Epoche hatten und haben Unternehmen selten andere Ziele als wettbewerbsfähig zu bleiben und Gewinne zu steigern. Strumpfwebstühle wurden im 16. Jahrhundert erfunden, um durch den Ersatz menschlicher Arbeit die Produktivität zu steigern und die Kosten zu senken. Aus dem gleichen Grund wurden im 19. Jahrhundert dampfbetriebene Maschinen in Mühlen, Fabriken und in der Landwirtschaft eingesetzt. Roboter im Automobilbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: dasselbe. Ob Traktoren, Fliessbänder oder Tabellenkalkulationsprogramme – das vorrangige Ziel neuer Technologien war stets der Ersatz menschlicher Muskelkraft durch Maschinenkraft, menschlicher Handarbeit durch maschinelle Konsistenz und langsamer und fehleranfälliger «Humanware» durch digitale Berechnungen. Und doch: Auch wenn durch die Automatisierung viele Arbeitsplätze verloren gingen, es entstanden auch neue. Durch die massive Steigerung der Produktion wurde auch die Verteilung der Waren intensiviert, was wiederum neue Arbeitsplätze schuf. Mit der Verdrängung der pferdebetriebenen Fortbewegung und der pferdebezogenen Berufe durch den Pkw und der zunehmenden privaten Mobilität wurden stattdessen Arbeitsplätze in der wachsenden Branche der Verpflegung und Beherbergung am Strassenrand geschaffen. Die zunehmende Rechenleistung, die menschliche Tätigkeiten in Büros ersetzte, führte auch zu vollkommen neuen Produkten und zur Gaming-Industrie. Der mit diesen Entwicklungen einhergehende steigende Wohlstand und das Bevölkerungswachstum führten zu einem erhöhten Freizeit- und Konsumbedürfnis, das diese Sektoren ankurbelte und Arbeitsplätze schuf – auch wenn der Wohlstand nicht so allgemein zunahm, wie man vielleicht annehmen könnte, wie wir weiter unten sehen werden. Wir können jedoch nicht einfach davon ausgehen, dass die gegenwärtige Revolution dem gleichen Muster folgt und mehr Arbeitsplätze und Wohlstand schafft als vernichtet, nur weil dies in der Vergangenheit der Fall war. Im Gegensatz zu mechanischen Technologien und einfachen Computern haben KI-Technologien nicht nur das Potenzial, billige Arbeitskräfte zu ersetzen, etwa durch Reinigungsroboter oder Roboter in der Landwirtschaft. Sie haben auch begonnen, teure Arbeitskräfte wie Patholog*innen bei der Krebsdiagnose und andere medizinische Fachkräfte bei der Diagnose und Behandlung von Patient*innen zu übertreffen. Diese Technologien übernehmen nun auch kreative Aufgaben wie das Schreiben, die Auswahl von Szenen für Filmtrailer oder die Produktion digitaler Kunst. Natürlich sollten wir nicht gleich von einer dystopischen Zukunft mit weniger Arbeitsplätzen und sinkendem Wohlstand ausgehen. Aber wir müssen bedenken, dass es derzeit in vielen Fällen kostengünstiger ist, teure Arbeitskräfte durch KI-Lösungen zu ersetzen als billige Arbeitskräfte, wie z. B. Textilarbeiter*innen in Bangladesch.

Schauen wir uns also im Sinne einer differenzierteren Betrachtung die derzeit gängigsten Behauptungen an und prüfen, ob sie einer genaueren Betrachtung standhalten.

KI wird mehr/weniger Arbeitsplätze schaffen als vernichten.

Dies ist das Hauptargument, das in utopischen/dystopischen Szenarien vorgebracht wird. Dazu gehören Berichte des WEF (97 Millionen neue Arbeitsplätze gegenüber 85 Millionen wegfallenden Arbeitsplätzen in 26 Ländern bis 2025), von PwC («etwaige Arbeitsplatzverluste durch Automatisierung dürften langfristig durch neu geschaffene Arbeitsplätze weitgehend ausgeglichen werden»), Forrester (Arbeitsplatzverluste von 29% bis 2030, denen nur 13% neue Arbeitsplätze gegenüberstehen) und viele andere. In jedem Fall kann jede Nettoveränderung erhebliche Herausforderungen mit sich bringen. Wie BCG in einem Bericht von 2021 zu diesem Thema feststellt, ist «die Nettozahl der verlorenen oder neu geschaffenen Arbeitsplätze eine künstlich simple Metrik», um die Auswirkungen der Digitalisierung abzuschätzen. Eine Nettoveränderung von Null oder sogar eine Zunahme der Arbeitsplätze könnte zu erheblichen Asymmetrien auf dem Arbeitsmarkt führen, mit einem dramatischen Talentmangel in einigen Branchen oder Berufen und einem massiven Arbeitskräfteüberschuss und Arbeitslosigkeit in anderen. Andererseits könnte ein Rückgang der Arbeitsplätze zu mehr Jobsharing und kürzeren Arbeitswochen führen, anstatt Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung zu verursachen. Das mag in der Theorie gut klingen, wirft aber zusätzliche Fragen auf: Wie wird sich das auf Löhne und Sozialleistungen auswirken? Und wer erntet den Löwenanteil der monetären Belohnung? Die Unternehmen? Die Arbeitnehmenden? Der Staat? Zweifellos ist es noch zu früh, um die Auswirkungen einer breiten Einführung von KI auf die Gesamtbeschäftigung oder die Löhne zu beurteilen. Aber die Auswirkungen vergangener industrieller Revolutionen sind keine Garantie für ähnliche Ergebnisse in der Zukunft. Und selbst vergangene Revolutionen zeigen, dass das Wachstum von Beschäftigung und Wohlstand nicht unbedingt so rosig war, wie es oft dargestellt wird. Der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist in den OECD-Ländern seit 1970 von 64% auf 69% im Jahr 2022 gestiegen[1], aber ein wesentlicher Teil dieses Anstiegs ist auf eine höhere Erwerbsbeteiligung, insbesondere von Frauen, zurückzuführen. Und der gestiegene Wohlstand ist eindeutig nicht gleichmässig verteilt, z. B. in den USA.

 

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Quellen: Grafik 1: Economic Policy Institute, https://www.epi.org/publication/inequality-2021-ssa-data/; Grafik 2: Berechnungen der Autorin basierend auf Daten des Economic Policy Institute, State of Working America Data Library, “Wages by percentile and wage ratios,” 2022. Aktualisiert März 2023
*Niedriglohn entspricht dem 10. Perzentil, mittlerer Lohn dem 50. Perzentil, sehr hoher Lohn dem 95. Für die Jahre 2020–2022 sind keine Daten für das 95. Perzentil verfügbar, da ein erheblicher Teil der betreffenden Stichprobenpopulation dem Top-Code-Wert für Wochenlöhne des US Bureau of Labor Statistics entspricht.

 

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass wir als Gesellschaft durch KI und Automatisierung automatisch wohlhabender werden oder dass der gestiegene Wohlstand gerecht verteilt sein wird. Wir sollten uns daher auch auf negativere Szenarien vorbereiten und darüber diskutieren, wie wir die Folgen abmildern können. Wäre es zum Beispiel akzeptabel, KI-Prozesse wie menschliche Arbeit zu behandeln? Wenn ja, könnten wir erwägen, sie zu besteuern, um die Umverteilung des Wohlstands zu unterstützen oder um Schulungen oder Sozialleistungen und Renten für entlassene Arbeitskräfte zu finanzieren.

Darüber hinaus sollten wir alle Schätzungen zur Verdrängung von Berufen grundsätzlich in Frage stellen. Wer kann mit Sicherheit sagen, dass dieser oder jener Beruf verschwinden wird? Wie können wir wissen, welche Art von Berufen es in Zukunft geben wird? Keine dieser Prognosen ist wirklich verlässlich oder objektiv – sie beruhen in erster Linie auf den Meinungen einer Gruppe von Menschen. Der «Future of Jobs Report» des WEF, einer der einflussreichsten Berichte zu diesem Thema, basiert beispielsweise auf Umfragen unter Arbeitgebenden. Es ist jedoch naiv zu glauben, dass irgendjemand, geschweige denn eine beliebige Gruppe von Wirtschaftsvertreter*innen, eine sichere Vorstellung davon haben kann, welche Berufe und Kompetenzen in Zukunft benötigt werden. Davon sollte man nicht mehr erwarten als von der Wahrsagerei auf dem Jahrmarkt. Man denke nur an die Vorhersagen über das Automobil im frühen 19. Jahrhundert, über den Fernabsatz in den 1960ern, über Mobiltelefone in den 1980ern oder Computer seit den 1940ern. So viele technologische Vorhersagen waren völlig falsch – warum sollte sich das jetzt ändern? Und doch sind diese Art von Glaskugelprognosen ein Schlüsselelement in den Einschätzungen zur «Zukunft der Arbeit».

Tatsächlich ist die wissenschaftliche Forschung zu diesem Thema sehr rar. Eine der wenigen Arbeiten in diesem Bereich untersuchte die Auswirkungen der KI auf die Arbeitsmärkte in den USA zwischen 2007 und 2018. Die Autoren (vom MIT, Princeton und der Boston University) fanden heraus, dass eine zunehmende Nutzung von KI in Unternehmen mit niedrigeren Einstellungsraten einhergeht, d.h. die Einführung von KI hat sich bisher eher auf den Ersatz als auf die Ergänzung von Arbeitsplätzen konzentriert. In derselben Studie gibt es auch keine Hinweise darauf, dass die starken Produktivitätseffekte von KI zu mehr Neueinstellungen führen. Manche mögen sagen, dass dies für eine dystopische Sichtweise spricht. Wir müssen jedoch auch darauf hinweisen, dass diese Studie auf Online-Stellenangebotsdaten basiert und die Ergebnisse daher mit Vorsicht zu betrachten sind, wie wir in einem unserer anderen Beiträge ausführlich erläutert haben. Darüber hinaus ist es aufgrund der Dynamik der technologischen Innovation und ihrer Verbreitung nahezu unmöglich, solche Ergebnisse zu extrapolieren und zu projizieren, um solide Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen zu machen.

Und eine eher philosophische Randnotiz: Was würde es für die menschliche Existenz bedeuten, wenn wir deutlich weniger arbeiten würden? Arbeit ist in unserer Natur verankert, sie ist ein prägendes Merkmal.

Behauptung 2: Computer sind gut in dem, was uns schwer fällt, und schlecht in dem, was uns leicht fällt.

Schwer und leicht für wen? Glücklicherweise haben wir nicht alle die gleichen Stärken und Schwächen und finden daher nicht alle die gleichen Aufgaben «leicht» und «schwer». Auch dies ist eine stark verallgemeinernde Aussage, die auf einem völlig subjektiven Urteil beruht. Und wenn sie zuträfe, dann würden die meisten Menschen sich wiederholende Aufgaben als typisch leicht oder zumindest als leichter empfinden. Dies steht in direktem Widerspruch zur nächsten Behauptung:

Behauptung 3: KI wird (nur) repetitive Tätigkeiten vernichten und interessantere, höherwertige Tätigkeiten hervorbringen.

Das WEF erklärt, dass KI repetitive Tätigkeiten wie Dateneingabe und Fliessbandfertigung automatisieren wird, «so dass sich Arbeitnehmende auf höherwertige und ‹higher touch›-Aufgaben konzentrieren können», mit «Vorteilen sowohl für Unternehmen als auch für Einzelpersonen, die mehr Zeit haben werden, um kreativ, strategisch und unternehmerisch tätig zu sein.» BCG spricht von einer «Verlagerung von Arbeitsplätzen mit repetitiven Tätigkeiten in der Fliessbandfertigung hin zu solchen in der Programmierung und Wartung von Produktionstechnologie» und davon, wie «der Wegfall banaler, repetitiver Tätigkeiten in der Rechtsabteilung, Buchhaltung, Verwaltung und ähnlichen Bereichen den Beschäftigten die Möglichkeit gibt, strategischere Rollen zu übernehmen». Die Frage ist, wer genau profitiert? Nicht alle Arbeitnehmenden, die repetitive Tätigkeiten ausführen können, haben das Potenzial, strategische, kreative und unternehmerische Aufgaben zu übernehmen oder Produktionstechnologie zu programmieren und zu warten. Es ist schlicht eine Tatsache, dass nicht jede Person für jede Rolle ausgebildet werden kann. Befriedigendere, interessante Aufgaben für Intellektuelle (wie z. B. die Befürworter einer besseren Zukunft der Arbeit dank KI) können zu anspruchsvoll sein für weniger intellektuelle Arbeitnehmende, deren Arbeit – die für sie vielleicht vollkommen zufriedenstellend war – gerade automatisiert wurde. Und nicht alle Angestellten können oder wollen Unternehmer*innen oder Strateg*innen sein. Ausserdem: Was genau bedeutet «höherwertig»? Wer profitiert davon? Neu geschaffene Stellen, wie z. B. die Lagerarbeiter*innen bei Amazon oder die Fahrer*innen von Uber, werden nicht gerade mit anständigen, existenzsichernden Löhnen bezahlt. Und seit den frühen 1970er Jahren haben die Unternehmen ein ausgeprägtes Desinteresse daran gezeigt, den Mehrwert aus Produktivitätssteigerungen mit den Beschäftigten zu teilen:

 

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Quelle: Economic Policy Institute, https://www.epi.org/productivity-pay-gap/

 

Andererseits führt eine beträchtliche Anzahl der bereits verfügbaren KI-Anwendungen höher- bis hochqualifizierte Aufgaben aus, die auf Data Mining, Mustererkennung und Datenanalyse beruhen: Diagnose und Behandlung von Krankheiten, Chatbots für den Kundenservice, Optimierung von Ernten und Anbaustrategien, Finanz- oder Versicherungsberatung, Betrugserkennung, Planung und Routing in der Logistik und im öffentlichen Verkehr, Marktforschung und Verhaltensanalyse, Personalplanung, Produktdesign und vieles mehr. Nun kommen noch die vielfältigen Anwendungen von ChatGPT hinzu. Die volle Auswirkung dieser Anwendungen auf den Arbeitsmarkt ist noch nicht klar, aber sie werden sicherlich nicht nur banale, sich wiederholende Aufgaben aus den Stellenprofilen verdrängen.

Behauptung 4: Wir müssen die Arbeitskräfte (nur) weiterbilden oder umschulen.

Obwohl wir dieser Aussage nicht generell widersprechen, wird sie oft als mehr oder weniger einfache Lösung angeführt, um sich auf die künftigen KI-bedingten Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt vorzubereiten und «die positiven gesellschaftlichen Vorteile der KI zu nutzen» (WEF). Tatsächlich gibt es jedoch einige Vorbehalte, die diese Lösung alles andere als einfach machen.

Erstens können wir nicht oft genug wiederholen, dass es unmöglich ist, die «Zukunft der Arbeit» zuverlässig vorherzusagen, insbesondere, welche Berufe gefragt sein werden und welche nicht. Ausgehend von den Auswirkungen früherer industrieller Revolutionen und der aktuellen Forschung ist es ausserdem sehr wahrscheinlich, dass die breite Einführung von KI neue Stellen mit Profilen schaffen wird, die wir noch nicht vorhersehen können. Das bedeutet, dass wir heutige und künftige Fachkräfte mit den Fähigkeiten ausstatten müssen, die für Berufe erforderlich sind, von denen wir heute noch nichts wissen. Eine häufig vorgeschlagene Lösung für dieses Problem ist die Förderung des lebenslangen Lernens und die Unterstützung von anpassungsfähigeren und kurzfristigeren Formen der Aus- und Weiterbildung. Dies ist sicherlich eine sinnvolle und zunehmend populäre Option. Allerdings sind dabei verschiedene Aspekte zu berücksichtigen. Beispielsweise verfügen 15–20% der erwachsenen Bevölkerung in der EU und den USA über geringe Lese- und Schreibkenntnisse (PIAAC-Level 1 oder darunter)[2]. Das bedeutet, dass sie Schwierigkeiten haben, Aufgaben wie das Ausfüllen von Formularen oder das Verstehen von Texten zu unbekannten Themen zu bewältigen. Wie können diese Menschen für «komplexere und lohnendere Projekte» ausgebildet werden, wenn sie nicht in der Lage sind, ein Lehrbuch zu lesen, sich in einem Handbuch zurechtzufinden oder einen einfachen Bericht zu schreiben? Hinzu kommt, dass etwa 10% der Vollzeitbeschäftigten in der EU und den USA zu den Working Poor gehören.[3] In den USA entspricht dies mehr als der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung von Texas, einer der bevölkerungsreichsten Staaten des Landes. Diese Menschen haben in der Regel nicht die Zeit, die Ressourcen oder die Unterstützung ihrer Arbeitgeber*innen für lebenslanges Lernen und somit keinen informierten Zugang zu effizienter, zielgerichteter und erschwinglicher (Weiter-)Bildung.

Bis diese Probleme angegangen werden, könnten viele dieser Beschäftigten den Anschluss verpasst haben. Im Jahr 2018 schätzten Arbeitgeber*innen in den USA, dass mehr als ein Viertel ihrer Belegschaft bis 2022 eine mindestens dreimonatige Weiterbildung benötigen würde, um mit den Qualifikationsanforderungen ihrer aktuellen Aufgaben Schritt zu halten.[4] Zwei Jahre später hatte sich dieser Anteil auf über 60% mehr als verdoppelt, und weltweit sind die Zahlen ähnlich.[5] Hinzu kommt, dass selbst vor der Grossen Rezession, in den Jahren 2000 bis 2006, nur etwa 6 von 10 arbeitslos gewordenen US-Arbeitskräften innerhalb von 12 Monaten wieder eingestellt wurden.[6] Im Jahr 2019 war diese Quote in der EU ähnlich hoch.[7] Angesichts der sich immer schneller ändernden Qualifikationsanforderungen und des Mangels an Zeit und/oder Ressourcen für gefährdete Gruppen wie die Working Poor und Beschäftigte mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen, ganz zu schweigen von fehlenden Sicherheitsnetzen und gezielten Massnahmen in den unterfinanzierten Systemen zur Entwicklung der Arbeitskräfte, ist es unwahrscheinlich, dass sich die Aussichten für diese Menschen verbessern.

Darüber hinaus hat die Pandemie die Einführung von Automatisierung und KI am Arbeitsplatz in vielen Sektoren massiv beschleunigt. Roboter, Maschinen und KI-Systeme wurden eingesetzt, um in kürzester Zeit Böden zu reinigen, Temperaturen zu messen oder Lebensmittelbestellungen aufzunehmen, Personal in Kantinen, an Mautstellen oder in Callcentern zu ersetzen, leerstehende Gebäude zu bewachen, die industrielle Produktion von Krankenhausmaterial zu steigern und vieles mehr. In der Vergangenheit wurden neue Technologien schrittweise eingeführt, so dass die Beschäftigten Zeit hatten, sich auf die neuen Aufgaben einzustellen. Diesmal mussten die Arbeitgeber*innen ihre Mitarbeiter*innen aufgrund plötzlicher Schliessungen oder sozialer Distanzierung schnell durch Maschinen oder Software ersetzen. Dies ist ein entscheidender Unterschied zu früheren industriellen Revolutionen. Viele Arbeitskräfte wurden entlassen und hatten nicht genügend Zeit, sich umzuschulen. Ähnlich disruptive Ereignisse können auch in Zukunft auftreten, sei es eine weitere Pandemie oder ein technologischer Durchbruch. Als Gesellschaft müssen wir darauf vorbereitet sein und den betroffenen Arbeitskräften rasche, effiziente und vor allem realistische Unterstützung bieten.

Behauptung 5: Arbeitgeber*innen sollten Weiterbildung und Umschulung als Investition und nicht als Kostenfaktor betrachten.

Wenn ein Unternehmen alle Kassierer*innen durch Roboter ersetzt, warum sollte es dann die neu entlassenen Arbeitskräfte umschulen wollen? Selbst Regierungen tun sich schwer mit dieser Einstellung zur Aus- und Weiterbildung. Viele Länder konzentrieren sich in erster Linie auf die akademische oder sonstige Ausbildung junger Arbeitskräfte und nicht auf die Umschulung von Arbeitssuchenden oder Beschäftigten. Beispielsweise gibt die US-Regierung nur 0,1% des BIP für die Unterstützung von Arbeitskräften beim Arbeitsplatzwechsel aus. Das ist weniger als die Hälfte dessen, was sie vor 30 Jahren ausgegeben hat – und das, obwohl sich die Qualifikationsanforderungen viel schneller ändern als noch vor drei Jahrzehnten. Und die überwiegende Mehrheit der Unternehmen ist in erster Linie an Gewinnmaximierung interessiert – so funktioniert unsere Wirtschaft. Man bedenke: Wir leben in einer Welt, in der in manchen Ländern selbst Sandwichverkäufer*innen und Hundesitter*innen von ihren Unternehmen gezwungen werden können, Wettbewerbsklauseln zu unterzeichnen, um eine Lohnerhöhung zu verhindern, falls sie damit drohen, für ein höheres Gehalt zur Konkurrenz zu wechseln.

Eine gut funktionierende Konversationssoftware könnte es einem Unternehmen ermöglichen, ein Callcenter mit 1000 Beschäftigten mit nur 100 Personen plus Chatbots zu betreiben. Ein Chatbot kann 10’000 Anfragen in einer Stunde beantworten, weit mehr als jedes realistische Volumen, das selbst die effizientesten Callcenter-Mitarbeiter*innen bewältigen könnten. Darüber hinaus wird ein Chatbot nicht krank, braucht keinen Urlaub und fragt nicht nach Vergünstigungen und Leistungen. Er trifft konsistente, evidenzbasierte Entscheidungen und bestiehlt oder betrügt seine Arbeitgeber*innen nicht. Wenn also die Qualität dieser Software ausreicht und der Preis stimmt, gäbe es einen Aufschrei der Aktionäre, wenn ein Unternehmen dieses Angebot nicht annähme. Schliesslich ist eine Lösung, die die Effizienz und Produktivität steigert und gleichzeitig die Kosten senkt, der wahr gewordene Traum eines jeden Unternehmens. Wenn sich dieses Unternehmen also nicht dafür entscheidet, wird es die Konkurrenz tun. Und trotz der Propaganda von «Tech for Social Good», die wir immer wieder aus dem Silicon Valley hören, sind die meisten Unternehmen nicht an der Zukunft ihrer zukünftigen Ex-Angestellten interessiert.

Jenseits des Tellerrands

Die Quintessenz ist, dass wir es uns nicht leisten können, zu sehr zu dramatisieren oder uns einfach zu versichern, dass es genug Arbeitsplätze geben wird. Die meisten der häufig genannten Probleme oder Lösungen werden eher in der akademischen oder einkommensstarken Bubble von Forschern, Technologieunternehmern und politischen Entscheidungsträgern diskutiert, gemischt mit einer gehörigen Portion Idealismus. Diese Entwicklungen haben – im Guten wie im Schlechten – ein enormes Potenzial, unsere Arbeitsmärkte und unsere Gesellschaft von Grund auf zu verändern. Um ihnen einen Schritt voraus zu sein, müssen wir über den Tellerrand hinausschauen und realistische Zukunftsstrategien entwickeln, die auf Fakten und objektiven Daten beruhen.

 

[1] https://stats.oecd.org/Index.aspx?DatasetCode=LFS_SEXAGE_I_R#

[2] US: https://www.libraryjournal.com/?detailStory=How-Serious-Is-Americas-Literacy-Problem
EU: http://www.eli-net.eu/fileadmin/ELINET/Redaktion/Factsheet-Literacy_in_Europe-A4.pdf

[3] US: https://nationalequityatlas.org/indicators/Working_poor?breakdown=by-race-ethnicity&workst01=1
EU: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/sdg_01_41/default/table?lang=en

[4] The Future of Jobs Report 2018, World Economic Forum, 2018.

[5] The Future of Jobs Report 2020, World Economic Forum, 2020.

[6] Back to Work: United States: Improving the Re-employment Prospects of Displaced Workers, OECD, 2016.

[7] https://skillspanorama.cedefop.europa.eu/en/dashboard/long-term-unemployment-rate?year=2019&country=EU#1