Jetzt aber mal ganz ehrlich: Der Schweizer Arbeitsmarkt steht vor weitaus dringenderen Problemen als dem Mangel an hochqualifizierten Fachkräften

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Der hiesige Arbeitsmarkt steuert auf eine Notstandslage zu. So wie sie steht können wir dieser kürzlichen Aussage von Boris Zürcher, Leiter der Direktion Arbeit beim Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), eigentlich nur beipflichten. Unsere jahrelange Erfahrung und Expertise im Umgang mit HR-, Recruiting- und Arbeitsmarktdaten weltweit deutet durchaus auf derartige Tendenzen hin. Wenn es jedoch um den Hauptgegenstand jener Notlage geht, so sehen wir die Situation anders als der oberste Arbeitsmarktchef des Bundes. Oder, dreist formuliert, vielleicht etwas weitsichtiger. Im Hinblick auf seine in wenigen Jahren anstehende Pensionierung hätten wir uns gefreut, wenn Zürcher im Watson-Interview die Chance ergriffen hätte und in seiner Darstellung des Stellenmarkts und dessen Beeinflussung durch die Pandemie mal ein wenig deutlicher geworden wäre. Anders als die Schlagzeile vermuten lässt, wird aber mehrheitlich in dasselbe alte Horn geblasen und die prognostizierte chronische Knappheit an spezialisierten und hochqualifizierten Fachkräften in Bereichen wie Technik, Ingenieurwesen oder Management als grösste Herausforderung für den Schweizer Arbeitsmarkt bemängelt. Demgegenüber wird zwar zaghaft Bezug auf den Umstand genommen, dass wir uns (wie übrigens vielerorts) immer mehr weg von einem «Arbeitgebermarkt» hin zu einem «Arbeitnehmermarkt» bewegen und es somit insgesamt ein Überangebot an Stellen und einen Mangel an Arbeitskräften geben wird. Die sich aus alledem ergebenden Folgen für Personen mit einer Berufslehre und für eher geringqualifizierte Arbeitnehmende werden im Interview aber mittels schwammiger Phrasen wie «alles ist immer in Bewegung» eher verundeutlicht. Fast schon kommt einem der Gedanke, dass es an offizieller Stelle niemanden so richtig zu interessieren scheint…

Bei JANZZ.technology sehen wir uns deshalb dazu verpflichtet, gestützt auf eigene Analysen und Beobachtungen ein paar ergänzende Angaben zum angekündigten «Notstand» auf dem Arbeitsmarkt in der Schweiz und in zahlreichen anderen Ländern zu geben. Falls Sie selbst ein politisches Amt innehaben oder Mitglied der öffentlichen Verwaltung sind und ein tatsächliches Interesse an einem Kurswechsel und einer nachhaltigen Verbesserung der aktuellen Arbeitsmarktsituation hegen, legen wir Ihnen das Lesen dieses Beitrags speziell ans Herzen. Gerne dürfen Sie auch jederzeit auf uns zukommen. Lassen Sie uns endlich Klartext darüber reden, in welchen Bereichen sich die Bedarfslage tatsächlich immer mehr zuspitzt, weshalb insbesondere im Zusammenhang mit der omnipräsenten Thematik «Digitalisierung» Massnahmen ergriffen werden sollten und ein Fokus auf den Mangel an studierten Fachkräften deshalb zu kurz greift.

Mehr Stellen als Arbeitskräfte – trotz laufender Digitalisierung

Ein Wort, das punkto Arbeitsmärkte momentan in aller Munde ist, ist die sogenannte «Great Resignation». Der Begriff bezeichnet einen pandemiebedingten Anstieg in freiwilligen Kündigungen seit dem Frühjahr 2021. Daraus folgende Begleiterscheinungen sind viele Neueinstiege in andere Berufe, beziehungsweise die Nicht-Rückkehr in vorherige Stellen, insbesondere solche im Niedriglohnsegment. Dabei sind nicht nur die tatsächlichen Ausprägungen und angeblichen Beweggründe – wie plötzliche Eingebungen zur Eigenverwirklichung in irgendwelchen Self-Made-Projekten – dieses Geschehnisses stark umstritten. Es wird bei der «Great Resignation» zusätzlich auch nur eine Momentaufnahme von knapp drei Jahren angeschaut, von der es schwierig ist, langfristige Folgen und Entwicklungen abzuleiten. Prognosen über nun angeblich nachhaltig gestärkten Verhandlungspositionen der Arbeitnehmenden – beispielsweise im Gastrogewerbe – sind somit mit Vorsicht zu geniessen und weiter zu differenzieren.

Für eine aussagekräftigere Analyse ist eine langfristige Betrachtung der Situation notwendig, welche es erlaubt, zwischen Rauschen und Signal zu unterscheiden. Zudem sollte die Anzahl an Kündigungen in Relation zu den Anzahlen an Einstellungen und offenen Stellen in einer Zeitreihe systematisch verglichen werden. Sodann stellt sich heraus, dass der «kürzliche Trend» zu einer steigenden Austrittsquote keineswegs derart dramatisch ist, wie er vielerorts gezeichnet wird und noch dazu die teilweise Fortsetzung eines bereits vor der Pandemie erkennbaren Musters darstellt: Da sich der Arbeitgebermarkt in vielen Ländern immer mehr zu einem Arbeitnehmermarkt wandelt, wird es fast in allen Bereichen immer mehr Arbeit für zu wenige Arbeitnehmende und dadurch tendenziell mehr Entscheidungsfreiheit bei der Stellenwahl geben. Einleuchtend also, dass bei der «Great Resignation» (sowie der Zeit davor und danach) insbesondere Tieflohnbranchen wie Einzelhandel oder das Gastgewerbe von hohen Kündigungsraten betroffen sind. Die ansteigende Arbeitskräfteknappheit dürfte sich dabei also wirklich nicht nur in nie dagewesener Weise auf das Wachstum auswirken. Der miteinhergehende Arbeitsmarktwandel ist in seiner Art einzigartig und wird langfristig vermutlich tatsächlich auch mit der «traditionellen» Powerdynamik zwischen Arbeitgeber und -nehmer brechen, welche sich seit der Industrialisierung eingespielt hat. Aus dem insgesamten Überbedarf an Arbeitskräften erklärt sich mitunter ebenfalls, weshalb sich die Schweizer Arbeitslosenquote dermassen schnell erholt hat und sich inzwischen wieder auf präpandemischem Niveau befindet. Dies wiederum führt vor Augen, dass bei allgemeinen Aussagen über den Arbeitsmarkt mehr als ein Indikator in Betracht gezogen werden muss und die Arbeitslosenquote dabei eine Kennzahl unter vielen ist.

Verantwortlich für diesen prognostizierten Überbedarf macht das SECO unter anderem die miteinander einhergehenden rückläufige Geburtenrate und baldige Verrentung der Babyboomer-Generation, sowie einen allgemeinen Trend zur Tertiärisierung, was begleitet wird vom permanenten Strukturwandel der Wirtschaft aufgrund der Digitalisierung. [1] So weit, so richtig. Dass letztgenannte Entwicklung aber wie behauptet jährlich fast ausschliesslich im Bereich der hochqualifizierten Fachkräfte tausende neu zu besetzende Stellen schafft, stimmt so nicht. Zahlreiche Statistiken bekannter Institutionen wie der ILO oder der World Bank zeigen auf, dass insbesondere im von der Digitalisierung geprägten Tech-Bereich für alle neu generierten Stelle mit Hochqualifizierungsprofil auch eine Vielzahl an geringqualifizierten Jobs entstehen. Wenn man sich den enormen Wartungs-, Service- und Transportaufwand von modernen Technologien vor Augen führt, ist dies eigentlich auch wenig erstaunlich, oder? Die Theorie kennt diesen Effekt, bei welchem aufgrund von Auslagerung und Automatisierung Arbeitsplätze mit mittlerem Qualifikationsniveau im Verhältnis zu den Arbeitsplätzen mit geringem beziehungsweise hohem Qualifikationslevel zu verschwinden scheinen, als sogenannte «Job Polarization». [2] Darüber hinaus wird die Digitalisierung von den meisten Prozessen irgendwann mehr oder weniger erreicht sein. Wenn dann das Schaffen neuer Technologien nicht mehr im gleichen Tempo voranschreitet, wird die Wartung und Beförderung des dazugehörigen Equipments aber nicht zu einem Ende kommen und stets viele (niedrigqualifizierte) Arbeitskräfte erfordern.

Fachkräftemangel und Berufssterben – trotz wachsender Nachfrage

Eine weitere Thematik die den Arbeitsmarkt momentan bewegt ist die hohe Dynamik der Erwerbstätigen. Aber auch hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Zum einen gibt es sicherlich den einen oder anderen Branchenwechsel. Bei Arbeitnehmenden mit «unliebsamen» Berufen in Branchen wie dem Baugewerbe kommt es auch häufig vor, dass diese sich – sofern es die finanziellen Mittel erlauben – weiterbilden und in höher-qualifizierte, «komfortablere» Kaderpositionen wechseln. Dies zieht jedoch Probleme mit sich, die bereits jetzt bemerkbar sind und sich in den folgenden Jahren exponentiell vermehren werden: Es entsteht oder vielmehr besteht bereits ein Fachkräftemangel. Anders als in den von offizieller Seite so oft lamentierten Bereichen (hochqualifizierte Fachkräfte im Ingenieur-, Gesundheits- oder Rechtswesen, usw.) ist es hier aber manchmal derart schwierig, die Stellen (wieder) zu besetzen, dass Berufe regelrecht «auszusterben» drohen.

Ein Beispiel für solch wachsende Knappheit an «klassischen» Berufsbildungsarbeitskräften wurde kürzlich im Tagesanzeiger thematisiert. Fünf Jahre nach der Annahme des revidierten Energiegesetzes fehlen nun Handwerker in den Fachbereichen Heizung und Fotovoltaik für die Installation von Wärmepumpen und Solaranlagen zur Umsetzung der geplanten Strategie. Bis 2030 wird sich der Mangel auf mehrere Tausend Vollzeitstellen belaufen. Hinzu kommt, dass bereits bei der Produktion der Anlagen mit groben Engpässen und Verzögerungen gekämpft wird – teils wiederum aufgrund von Personalmängeln. Man müsste meinen, dass einige dieser Probleme mit ein wenig Voraussicht vermeidbar gewesen wären. Leider wurde bei der Planung aber vor allem diskutiert und angekündigt, alles während Energieministerin Simonetta Sommaruga gleichzeitig «von der Branche [erwartete] dass sie vorwärts macht».

Doch ist dies bei Weitem nicht der einzige Bereich, welcher obschon grosse Nachfrage besteht Schwierigkeiten hat, genügend Fachkräfte mit einem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis oder ähnlicher Ausbildung zu finden, die den Job längerfristig machen wollen und können. In den Handwerks- und Pflegebranchen weisen zahlreiche Berufsgruppen unterdurchschnittliche Arbeitslosenraten und dennoch eine hohe Anzahl an ausgeschriebenen Stellen auf. Man merke auch hierbei wieder, dass die Arbeitslosigkeit nur ein Indikator unter vielen ist und allein noch nicht viel über den tatsächlichen Zustand des Arbeitsmarkts auszusagen vermag. Da kann man sich beim SECO noch so über die für den Sommer 2022 prognostizierte Schweizer Arbeitslosenquote um die 2 Prozent (vor)freuen, wenn sich dann trotzdem niemand finden lässt, der einem das vom Junigewitter-Hagel beschädigte Dach reparieren will – oder kann. Gewisse Gewerbe in der Facharbeit werden aufgrund der permanenten Knappheit nämlich schon richtig mit Aufträgen überflutet, was im Endeffekt mehr als unangenehm für uns alle werden wird.

Trotz aller Warnsignale werden statt Berufslehren jedoch weiterhin die Steigerung der Matura- und Fachhochschulabschlussquoten angestrebt. Vonseiten der Politik werden Angleichungen an OSZE-Standards gepusht und in den nächsten zehn Jahren Abschlussquotensteigerungen bis +17% (Matura) bzw. +20% (Hochschulebene) prognostiziert, während die Zahl der beruflichen Grundbildungsabschlüssen (EFZ und EBA) derzeit eine negative Tendenz (-3%) aufweist [3]. Noch dazu werden inzwischen für viele Spezialisierungen und Weiterbildungen eine BMS vorausgesetzt, was wiederum (motivierte) Personen vom Erlernen eines mitunter gefragten Berufes ausschliesst. Diese Über-Akademisierung wird ebenfalls durch Unternehmen gefördert, welche für jede 08/15-Büroposition einen Hochschulabschluss verlangen, obwohl die Stelle eigentlich auch problemlos beispielsweise mit KV-Abgänger*innen besetzt werden könnte (lesen Sie hierzu auch unseren Artikel über den aktuellen Überqualifizierungs-Trend vielerorts). Auch scheinen sich gewisse Unternehmungen bezüglich der Weiterbildung und Förderung ihrer Angestellten in Zurückhaltung zu üben, was es erschwert, diese längerfristig in der Firma oder Branche zu halten. Lieber werden diese Bildungskosten eingespart und Talente anderorts – teils aus den Nachbarländern – abgeworben.

Massnahmen – der Dringlichkeit wegen

Die Gründe für den tiefen Beliebtheitsgrad gewisser Berufslehren, der sich dann direkt im beschriebenen Fachkräftemangel äussert, sind selbstverständlich mannigfach. Nachtschichten, Bereitschaftsdienste, tiefe Löhne oder (ohne Weiterbildung) wenig Aufstiegspotenzial machen gewisse Jobs klar unattraktiver und müssen soweit möglich vonseiten der Unternehmen angegangen werden. Zum Beispiel, indem durch die Möglichkeit von Pensumsreduktionen oder interner Schulungen eine Weiterbildungskultur gefördert wird, sodass das nötige Fachpersonal nicht extern «eingekauft» werden muss.

Zu einer Verbesserung der aktuellen Lage gehört aber zwingendermassen auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Fachkräftemangel im Berufsbildungsbereich und dessen strukturellen Ursachen. Auch wenn man aus volkswirtschaftlicher Sicht noch beipflichten mag, dass es «nicht die Aufgabe des Staates [ist] dafür zu sorgen, dass die Unternehmen immer genügend Arbeitskräfte haben», heisst das nicht, dass an offizieller Stelle gewisse Informationen weniger Gewicht haben sollten als andere. [1] Eine ehrliche Kommunikation zum Zustand der nationalen Bildungs- und Arbeitsmärkte könnte hier der Anfang sein.

Ebenfalls angebracht wäre es, dass sich Politik und Bundesverwaltung mehr für eine allgemeine Aufwertung der Berufsbildner*innen einsetzen. Dies umfasst auch, den Ausbildungsweg der Berufslehre vorteilhafter zur Sprache zu bringen und sichtbarer zu machen. Das ständige mediale Feiern von steigenden Maturaquoten und Uniabschlüssen nützt nicht nur den jungen Menschen nichts, denen der Zugang zu diesen Institutionen aus finanziellen oder anderen Gründen verwehrt wird. Es vermittelt den Uniabgänger*innen mitunter auch ein trügerisches Bild zur Jobsituation nach Abschluss des langersehnten Wunschstudiums. Der Nationalrat hat den Bundesrat Anfang März in einem Postulat damit beauftragt, aufgrund des Fachkräftemangels Möglichkeiten auszuarbeiten, die das Aus- und Weiterbildungsangebot besser auf den Arbeitsmarkt abstimmen. Noch einmal fürs Protokoll: Bevor jetzt weitere Vorstösse gemacht werden, die in einem Schwall von leeren Worten untergehen, zu Papiertigern werden oder die Über-Akademisierung noch weiter vorantreiben, raten wir allen Entscheidungsträger*innen, sich erst ausgiebig mit den Fakten und Tatsachen zur hiesigen Arbeitsmarktsituation auseinanderzusetzen. Falls es hilfreich sein sollte, kann als Anregung auch gerne dieser Artikel ein zweites Mal gelesen werden. Es ist an der Zeit, dass wir einen produktiveren Weg einschlagen, als wir ihn bisher gegangen sind.

Bei JANZZ.technology sammeln wir im Rahmen einer Vielzahl von Projekten eine breite Palette von Arbeitsmarktinformationen, unter anderem in Zusammenarbeit mit den öffentlichen Arbeitsverwaltungen (PES) von Ländern auf der ganzen Welt. Dies ermöglicht uns seit 2010 die Entwicklung marktführender evidenzbasierter Lösungen. Unsere Systeme sind nicht nur effizient, skalierbar und extrem leistungsfähig, sie stützen auch auf ein ontologiebasiertes, semantisches Matching. Darüber hinaus liefern alle unsere Tools unvoreingenommene Ergebnisse im Einklang mit den OECD-Grundsätzen für KI. Es ist uns ein Anliegen, eine faktenbasierte Diskussion anzuregen und das gesellschaftliche Bewusstsein für alle mit Arbeitsmärkten und -prozessen im Zusammenhang stehenden Bereiche zu schärfen. Wenn Sie mehr über unsere Dienstleistungen erfahren möchten, kontaktieren Sie uns bitte unter info@janzz.technology oder über unser Kontaktformular, oder besuchen Sie unsere PES-Produktseite.

[1] Vuichard, Florence. 2022. Bald fehlen mehr als nur die Fachkräfte: «Wir nähern uns einer Knappheit!» URL: https://www.watson.ch/wirtschaft/schweiz/848911290-bald-fehlen-mehr-als-nur-die-fachkraefte-naehern-uns-einer-knappheit
[2] ILO. 2018. The impact of technology on the quality and quantity of jobs. https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—dgreports/—cabinet/documents/publication/wcms_618168.pdf
[3] BFS. 2021. Szenarien 2020-2029 für das Bildungssystem. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/szenarien-bildungssystem.html