fachkraeftemangel-berufsbildungsbereich

Aus allen Lautsprechern dröhnt die feierlich hallende Ansprache des Bundesrats zur Einweihung des neuen Bürokomplexes eines bekannten Technologieunternehmens in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofs. Obwohl Gepäckabfertiger Mario nur halbwegs aufpasst, sind die omnipräsenten Schlagwörter «Digitalisierung», «Innovationsschub» und «Zukunftsplanung» nicht zu überhören. Unterwegs zu seiner Lieblingskneipe an der Langstrasse zwängt sich Mario an den dutzenden von Schaulustigen und Apérojägern vorbei und gibt sich dabei alle Mühe, keine Champagner-Dusche abzubekommen. Kurz erhascht er einen Blick auf das Innenleben der neuen Location des Techgiganten: Töggelikasten, Billardtische und sogar eine Rutschbahn springen ihm ins Auge – nur Bürorähnliches ist nichts zu sehen. Komisch. Über einem Bier berichtet er darauf seinem besten Freund von seiner Beobachtung und meint achselzuckend, dass es schon schön wäre, wenn von offizieller Seite solche Anerkennung auch mal gegenüber Arbeitnehmenden wie ihm gezeigt würde. Karl, der Inhaber einer Sanitärfirma, pflichtet ihm nachdrücklich bei und äussert denselben Wunsch für solch eine Wertschätzung der KMUs. Zugleich kommentiert er aber spöttisch: «Das kannste vergessen, damit lässt sich doch keine massentaugliche Presse erzeugen. In die Tagesschau schaffen es nur noch Schlagzeilen, die Begriffe wie «künstliche Intelligenz» oder «digitale Transformation» enthalten.» Schweigend nehmen die beiden einen grossen Schluck von ihrem Feldschlösschen…

Im letzten Beitrag dieser Serie erörterten wir zusammen mit Mario den Mangel an Solidarität und die schiere Unmachbarkeit von neuen Arbeitszeitmodellen, die vermehrt gefordert werden. Wir zeigten auf, dass die verschiedenen Entwicklungen des weltweiten Arbeitsmarkts teils schon einer Perversion desselbigen gleichkommen, wovon die aktuelle Situation in der Flugindustrie nur das neueste Beispiel ist. Dieses Mal soll es darum gehen aufzuzeigen, wo die Verantwortungen für solche Dilemmata liegen und wie die Planung der hiesigen Arbeitsmarktstruktur anders gedacht werden könnte (oder sogar sollte).

Trendy Jobs Essenzielle Jobs

Dass sich unser Arbeitsmarkt gerade von einem «Arbeitgebermarkt» in einen «Arbeitnehmermarkt» wandelt, müsste inzwischen vielen bekannt sein. Ist es aber nicht, denn noch immer wird die Arbeitslosigkeit als Problem lamentiert und politisiert, auch wenn die Realität ganz andere Probleme bereithält. Kurz gefasst bedeutet «Arbeitnehmermarkt», dass es einen insgesamten Überschuss an Stellen im Vergleich zur Anzahl verfügbarer Arbeitskräfte geben wird. Oder im Falle der Schweiz vielmehr bereits gibt, denn Ende Juli kam die Arbeitslosenquote bei gerade mal 2% – und damit weit unter jener anderer europäischer Länder – zu liegen. Demgegenüber gibt es nur schon auf jobagent.ch über 150’000 offene Stellen – wobei ein Grossteil der tatsächlich zu besetzenden Positionen gar nicht erst publiziert wird, weil die Arbeitslosigkeit in gewissen Handwerkerberufen auf Null steht und es dementsprechend ein Ding der Unmöglichkeit ist, überhaupt jemanden zu finden. Ein Defizit an Arbeitskräften besteht also ganz und gar nicht etwa nur im Hinblick auf  Hochqualifikationssektoren wie beispielsweise der Pharma. Auch wenn das Wort «Fachkräftemangel» vielerorts nur mit sehr gut gebildeten Expert:innen in Verbindung gebracht wird, betitelt es (auf blumige Art und Weise) eigentlich die fehlenden Arbeitskräfte durchs Band weg. Davon betroffen sind aktuell insbesondere Bereiche wie Detailhandel oder Gebäudetechnik (und viele mehr!) – Branchen mit klassischen Berufsbildungsjobs also.

Berufe in diesen letzteren Sektoren fallen ausserdem oftmals in die Kategorie der sogenannten «grundlegenden Dienstleistungen» (engl. essential services). Nun, der Name kommt nicht von ungefähr: Abfallentsorgung, Transport, Infrastrukturinstandhaltung, Lehrtätigkeiten, Kindes- oder Altenbetreuung sind buchstäblich essenziell für das Funktionieren unserer Gesellschaft wie wir sie heute kennen und sie uns in der Zukunft vorstellen. Wie sollen wir eine Energiewende hinbekommen, wenn die Installateure für die dazu notwendigen Solaranlagen und Wärmepumpen fehlen? Ironischerweise werden gerade die Bedingungen solcher Arbeiten nicht immer so gestaltet, dass sich genügend Personen für deren Ausübung finden lassen. Es fehlt an vielem, darunter aber sicherlich an genügend Freizeitausgleich, fairer Bezahlung und nicht zuletzt Anerkennung – im Fachjargon ausgedrückt, an Incentives. Anders als die von Social Media, Newskanälen und Politiker:innen bejubelten Cyber Security Engineers, Software Developers und Project Managers, sind essenzielle Jobs oftmals keine ‘trendy’ Jobs.

All dies sollte eigentlich keine Neuigkeit sein, wird es doch schon seit geraumer Zeit in unzähligen Artikeln über den Fachkräftemangel durchgekaut. Nur zu ändern scheint sich nicht viel, denn Ereignisse wie dasjenige in der Luftfahrt häufen sich in der letzten Zeit. Die momentane Problemstellung in der Flugindustrie ist denn auch eine ähnliche, wie jene in anderen Branchen, bei welchen die Anzahl Mitarbeitende mit Berufslehre einen Grossteil der Beschäftigten ausmacht. Man denke beispielsweise an die überhöhte und nicht erfüllbare Personalnachfrage im Baugewerbe, Reinigungswesen oder in der Handwerkerschaft. In einer Vielzahl der Fälle wird sich die Lage noch zusätzlich verschärfen, da trotz der fortwährenden Angst vor einer ‘Robokalypse’ aufgrund der Digitalisierung sogar noch mehr niedrig- bis mittelqualifizierte Stellen entstehen werden. Darüber hinaus ist ebenfalls bekannt, dass Maturitätsquoten eine steigende Tendenz aufweisen, während die klassische Berufsbildung durchschnittlich eine stagnierende oder gar rückläufige Beliebtheit aufweist. Helikoptereltern, welche sich solch einem «Gymiwahn» hingeben und ihre Kinder möglichst lange von der Einschulung zurückhalten (nur damit deren Chancen auf einen Sekundarstufe-II-Abschluss steigen), dürften solche Entwicklungen in Zukunft nicht mindern.

Es ist also unschwer zu erkennen, dass der Schweizer Arbeitsmarkt äusserst dysfunktionale Komponenten beinhaltet und auf eine Implosion zusteuert. Und übrigens: Die Effekte von einseitigem Fördern von Big Tech und Hochschulabschlüssen gehen weit über den Arbeitsmarkt hinaus. Was sie beispielsweise mit dem lokalen Wohnungsmarkt machen können, zeigen Studien über das Silicon Valley zur Genüge auf – Stichwort «Wohnsegregation». Dass sich solch ein Szenario auch an Orten wie Zürich abzeichnet wird derzeit je länger umso klarer

Von Guessing zu Knowing (zu Planning)

Woran liegts? Es ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, dass ein Teil dieser Probleme hausgemacht ist. Denn dass die Arbeitsbedingungen und Entschädigung für Kabinenpersonal und Check-In-Agent:innen nicht gerade traumhaft sind, sollte spätestens einleuchten, wenn man sich gewisse Kennzahlen und Schilderungen dazu vor Augen führt. Jedoch gibt es daneben noch einen mindestens genauso wichtigen Punkt. Es ist verblüffend, dass sich auch beim Bund offenbar niemand so richtig darum gekümmert hat, die jetzigen Engpässe in der Aviatik – oder bei erweiterter Betrachtung im generellen Fachkräftebereich ausserhalb von Engineering, IT & Co – beim Namen zu nennen und antizipierend zu kommunizieren. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) veröffentlicht jährlich dutzende von Statistiken über den Schweizer Arbeitsmarkt. Dennoch ist es überaus schwierig, Einblick in eine aussagekräftige Bedarfseruierung über den Berufsbildungsbereich oder eben die Flugbranche im Spezifischen zu erhalten. Stattdessen werden von Bundesseite her lieber trendige Industrien wie die Informationstechnologie gepusht und von unseren Politiker:innen bei Konzerneröffnungen mit Schampus begossen, während Arbeitskräfteknappheit in anderen Branchen gänzlich den Kaderetagen der Airlines, Spenglereien oder Bauunternehmen zugeschoben werden.

Dass der Countdown bis zur Implosion des (sowieso schon defekten) Arbeitsmarkts buchstäblich an den Zahlen abgelesen werden könnte, wenn sich auch an offizieller Stelle mal jemand sachlich der Problematik Fachkräftemangel im Berufsbildungsbereich verschreiben und darüber prognostisch berichten würde, wird wohl als eine Nebensache angesehen. Nochmals: Selbstverständlich kommt Management-Seiten ebenfalls Verantwortung zu, wenn sie ihre Arbeitnehmerschaft als austauschbar behandeln und sich wenig um die Attraktivität der ausgeschriebenen Stellen kümmern. Doch auch diese könnten auf jeden Fall eine bessere Planung ihres Arbeitsmarktsegments ausarbeiten, wenn es landesweite, unternehmensübergreifende Bedarfsanalysen gäbe, die dann auch medial entsprechend behandelt und in der Bildungslandschaft erwidert würden. Albert Einstein hat einmal gesagt: «Das Problem zu erkennen ist wichtiger als die Lösung zu erkennen, denn die genaue Darstellung des Problems führt zur Lösung.»

Sich diesen Rat zu Herzen zu nehmen und ein umfassenderes, weitsichtigeres Workfore Planning zu priorisieren wäre mehr als angebracht. Ein solches würde auch die Luftfahrtindustrie miteinbeziehen. Vermutungen reichen dazu aber nicht aus, es braucht harte Zahlen und Fakten von übergeordneter Stelle, um den Bedarf in (Arbeits-)Stunden betiteln zu können und von ‘Guessing’ zu ‘Knowing’ und schlussendlich zum ‘Planning’ zu gelangen. Zukünftige Arbeitnehmer:innen haben ein Recht darauf, unverblümt zu erfahren, wie es um den Arbeitsmarkt steht, um so ihre eigenen Entscheidungen punkto Berufs- und Weiterbildungswahl zu treffen. Zusammen mit einer Aufwertung der Berufsbildnern, die in solchen «Krisenbranchen» tätig sind, sowie weiteren Vorkehrungen im Bereich Entlöhnung und Ausbildung könnte hiermit definitiv mehr erreicht werden als mit pompösen Einweihungszeremonien von angesagten Firmen an der Europaallee. Oder einem Verspotten der versagenden Manager. Betreffen werden die Folgen der aktuellen Fehlplanung hinsichtlich essenzieller Dienstleistungserbringungen nämlich nebst den überlasteten Arbeitnehmenden auch uns Konsument:innen – je länger umso direkter.

Apropos: Mario und Karl sind inzwischen bei ihrem dritten Feldschlösschen angelangt und auch ihr Gesprächsthema wendet sich gerade dem Thema «Konsum» zu: «Weisst du, was mich auch richtig auf die Palme bringt? Diese designertragenden, pausenlos auf Instagram-sendenden Influencer anfangs 20, die meinem Arbeitskollegen Pedro naserümpfend hinterherschauen, wenn er die Müllsäcke der Recyclingstation wechselt. Und die sich dann im Live-Stream lauthals darüber aufregen, dass ihr Ticket nach Ibiza doch glatte 10 Prozent teurer sei als im Vorjahr.» – «Obwohl es noch immer nicht die Hälfte der tatsächlich verursachten Kosten deckt und Leute wie du von solch einem Jetset-Leben nur träumen können! Ja, das kann ich sehr gut verstehen…», erwidert Karl. «Viele Zeitungen schreiben gerade über das Chaos an den Flughäfen, doch der Faktor Preisdruck vonseiten der Kundschaft wird eher selten erwähnt. Vielleicht schreibe ich an meinem nächsten freien Tag einen kleinen Leserbeitrag und sende ihn ein. Vielleicht hört ja doch mal jemand zu.» Falls Sie Marios Gedanken zu dieser Angelegenheit gerne lesen würden, bleiben Sie dran an dieser Reihe…

 

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